Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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der Niederlande finden sich wesentlich entsprechende 
Bestimmungen, so daß wohl keine außerdeutsche 
Verfassung existieren dürfte, in der die fragliche 
Garantie fehlte. Die Verfassungen der deutschen 
Bundesstaaten weichen in Ansehung der Gewähr 
der Redefreiheit sowohl von dem vorbemerkten 
Standpunkt als auch voneinander ab; die meisten 
nämlich enthalten mehr oder minder bedeutende 
Beschränkungen dieser Freiheit (so Sachsen (8831, 
Württemberg [(§ 1851, Hessen (Art. 831|, Sachsen- 
Weimar /8 181, Oldenburg [Art. 1311, Braun- 
schweig (§8 134 u. a.). Die preußische Verfassung 
bestimmt in Art. 84, daß die Mitglieder des preu- 
Whischen Landtags „für ihre in demselben ausge- 
sprochenen Meinungen nur innerhalb der Kammer 
auf Grund der Geschäftsordnung zur Rechenschaft 
gezogen werden“ können. Diese Vorschrift hat 
aber zur einheitlichen Reglung des in Rede stehen- 
den Punktes für alle gesetzgebenden Körperschaften 
Deutschlands geführt. Den Anstoß gab der Fall 
Twesten-Frentzel im preußischen Abgeordneten- 
haus im Jahr 1865. Bis dahin hatte das Preu- 
Pische Obertribunal in wiederholten Entschei- 
dungen aus den Jahren 1853 und 1865 den in 
Art. 84 gebrauchten Ausdruck „Meinungen“ da- 
hin ausgelegt, daß er alle Außerungen eines Ab- 
geordneten, welche von demselben in dieser seiner 
Eigenschaft bei Ausübung seiner Funktionen in den 
Kammern gemacht würden, umfasse. In dem er- 
wähnten Fall jedoch entschied unter dem 26. Jan. 
1866 ein Plenarbeschluß des Obertribunals, 
daß der Art. 84 eine strafrechtliche Verfolgung 
wegen einer bei Ausübung der Abgeordneten- 
funktionen in der Kammer ausgesprochenen Ver- 
leumdung nicht ausschließe; nur bei bloßen Be- 
leidigungen ohne verleumderischen Charakter finde 
eine solche nicht statt; er ging davon aus, daß der 
Art. 84 eine Ausnahmevorschrift enthalte, deshalb 
restriktiv zu beurteilen und daß unter „Mei- 
nungen“ lediglich die Resultate des Denkvermögens 
im Gegensatz zur Behauptung und Verbreitung 
von Tatsachen zu verstehen seien. Verschiedene 
Versuche des preußischen Abgeordnetenhauses, eine 
authentische Interpretation oder ein den Art. 84. 
abänderndes Gesetz im Sinn der ehemaligen Aus- 
legung des Obertribunals, an der die Auffassung 
des Abgeordnetenhauses stets festgehalten hatte, 
herbeizuführen, scheiterten regelmäßig an dem 
Widerspruch des Herrenhauses. Inzwischen aber 
war in die Verfassung des Norddeutschen Bundes 
der Art. 30, und zwar ohne Diskussion, ausgenom- 
men worden, wonach „kein Mitglied des Reichs- 
tags zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung 
oder wegen der in Ausübung seines Berufs ge- 
tanen Außerungen gerichtlich oder diszipli- 
nauarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versamm- 
lung zur Verantwortung gezogen werden“ darf. 
Im Anschluß daran wurden im Reichstag des 
Norddeutschen Bundes Anträge gestellt, welche 
durch Gesetz in allen Staaten des Bundes die gleiche 
Bestimmung einzuführen bezweckten, solche auch 
  
Abgeordneter. 
  
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angenommen, aber von dem Bundesrat abgelehnt. 
Als dann die Beratung des Strafgesetzbuchs kam, 
wurden die Versuche erneuert, eine entsprechende 
Vorschrift in das letztere einzustellen; dieselben 
hatten den Erfolg, daß eine solche als § 11 in das 
Strafgesetzbuch aufgenommen ist. Als Reichsgesetz 
geht sie den landesgesetzlichen Vorschriften, auch 
wenn es verfassungsmäßige sind, vor; der erwähnte 
Art. 30 der Verfassung des Norddeutschen Bundes 
ist in die des Deutschen Reichs übergegangen; der 
einheitliche Rechtszustand ist also geschaffen. Der 
Schutz, den diesen Bestimmungen gemäß der Ab- 
geordnete genießt, bezieht sich, wie der Wortlaut 
ergibt, auf jede Art der Verantwortung außerhalb 
der Versammlung, der er angehört. Auf den In- 
halt der Außerungen kommt es nicht an, mag er 
auch den Tatbestand eines Verbrechens oder Ver- 
gehens enthalten, den des Hochverrats, Landes- 
verrats, der Majestätsbeleidigung, Aufreizung zum 
Klassenkampf, Verleumdung, Beleidigung usw. 
nicht ausgeschlossen. Auch die Form ist unerheblich; 
die „Außerungen" können schriftlich, mündlich oder 
durch konkludente Handlungen gemacht werden. 
Nur das ist wesentlich, daß sie das Merkmal eines 
Berufsaktes an sich tragen. Die Ausübung des 
Abgeordnetenberufs beschränkt sich nun keineswegs 
auf die Plenarversammlungen der gesetzgebenden 
Körperschaft; auch in den Abteilungen, Kommis- 
sionen, Ausschüssen kann der Abgeordnete berufs- 
mäßig tätig sein. Anderseits ist es nicht aus- 
reichend, daß die Außerung innerhalb einer solchen 
offiziellen Versammlung fällt; nicht jede dort ge- 
machte Außerung ist ein Berufsakt, selbst wenn sie 
mit Bezug auf den Beratungsgegenstand erfolgt, 
z. B. nicht eine in der Unterhaltung mit einem 
Nachbar fallende. Indessen ist es auch wieder nicht 
notwendig, daß die Außerung in der Kammer 
getan werde, um straflos zu bleiben, wie dies 
der Wortlaut des Art. 84 der preußischen Ver- 
fassung verlangte; auch außerhalb nicht bloß des 
„Hauses“, sondern auch einer Versammlung der 
erwähnten Art ist eine jede Außerung als immun 
zu betrachten, wenn sie nur in Ausübung des Be- 
rufes getan wurde; als solche dürfte daher stets 
jede Außerung zu gelten haben, welche in Aus- 
führung eines von der gesetzgebenden Versammlung 
gegebenen Auftrags, z. B. bei Deputationen, 
Enqueten, getan wird, selbst wenn nur ein ein- 
zelner Abgeordneter dabei tätig wäre. Nicht zu 
den amtlichen Versammlungen der Abgeordneten 
gehören die Zusammenkünste der einzelnen Frak- 
tionen, der freien Vereinigungen und ähnlicher 
Assoziationen; wie überhaupt die Parteien, so 
haben auch diese Vereinigungen nur eine politische, 
aber keine rechtlich relevante Bedeutung; Auße- 
rungen, hier gemacht, stehen unter dem gemeinen 
Recht. Dasselbe gilt von Außerungen (Reden, 
Rechenschaftsberichten usw.) in Wählerkreisen 
(Vertrauensmänner-, Volksversammlungen). Die 
Wiederholung einer in dem Parlament gehal- 
tenen, daher straflosen Rede außerhalb desselben
	        
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