Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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(tribunal de première instance), die außerdem 
in erster und letzter Instanz über persönliche und 
Mobiliarklagen bis zu 1500 Francs und über 
Immobiliarklagen bis zu 60 Francs jährlicher 
Rente entscheiden. In andern Streitsachen, für 
welche das tribunal d'arrondissement ebenfalls 
die erste Instanz ist, geht die Berufung an den 
zuständigen Appellhof (cour d'appel). Die Appell- 
höfe (26 in den Departements, 1 in Algerien und 
6 in den Kolonien) zerfallen zu diesem Zweck in 
Zivilkammern, die sich aus 5 Richtern zusammen- 
setzen. — Für Handelssachen bestehen Handels- 
gerichte (tribunaux de commerce, 227), die 
weder Anwälte noch Advokaten brauchen; Streitig- 
keiten zwischen Arbeitgebern und -nehmern gehören 
vor die conseils des prud’hommes (ÖSchieds- 
gerichte). Die Berufung von den Handelsgerichten 
geht an die Appellhöfe. 
In der Kriminalgerichtsbarkeit gehören einfache 
üÜbertretungen vor den Friedensrichter, der als 
Polizeirichter auf höchstens fünf Tage Gefängnis 
und 15 Francs Geldbuße erkennt (tribunaux de 
simple police, 2871). Berufung ist nur bei einer 
Strafe über 5 Francs gestattet; sie geht an das 
Arrondissementsgericht, das als tribunal correc- 
tionnel (Zuchtpolizeigericht) über alle schwereren 
Vergehen (dölits) urteilt. Die Berufung von 
seinem Erkenntnis geht an die Strafkammer des 
Appellhofes, dessen Anklagekammer (chambre de 
mises en accusation) darüber entscheidet, ob ein 
Verbrechen (erime) vor das Schwurgericht (cour 
Lassises) zu verweisen ist. Den Assisen präsidiert 
ein Mitglied des Appellhofes, dem zwei Richter 
als Beisitzer gegeben sind; über die Schuldfrage 
entscheiden zwölf Geschworene. Ein „hoher Ge- 
richtshof“ (haute cour de justice), bessen Ge- 
schworene aus Mitgliedern der Generalräte und 
dessen Richter dem Kassationshofe entnommen sind, 
urteilt über Hochverrat und über die Verbrechen 
der Minister, Senatoren und Staatsräte. Endlich 
besteht noch ein für das ganze Reich zuständiger 
Kassationshof (cour de cassation), der nicht als 
höhere Instanz aufzufassen ist, sondern die Auf- 
gabe hat, die Einheit der Rechtsprechung zu 
wahren und sie gegen lokale Gewohnheiten und 
Auslegungen zu schützen. Demnach entscheidet er 
niemals über Tatfragen, sondern über Nichtig- 
keitsbeschwerden und hat darüber zu befinden, ob 
wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens verletzt 
worden sind, ob man Gesetze unrichtig angewendet 
oder ausgelegt hat, und ob die Sache zu noch- 
maliger Aburteilung an ein anderes Gericht zu 
verweisen sei. Außerdem hat er gewisse Disziplinar= 
befugnisse über die Gerichtsbeamten. Die Richter 
der Arrondissementsgerichte, Appellhöse und des 
Kassationshofes können nur durch Entscheidung 
des Kassationshofes abgesetzt werden. 
Bei allen Gerichtshöfen findet sich eine Staats- 
anwaltschaft (ministère public), die nicht nur 
als Anklägerin tätig ist, sondern auch die Ober= 
aufsicht über eine Anzahl von Beamten (Notare, 
Frankreich. 
  
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Huissiers, Greffiers) führt; ebenso wirkt sie auch 
vielfach bei der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Vor- 
mundschaft u. ä.) und bei der Zivilrechtspflege 
(3z. B. in Ehescheidungssachen) mit. Beim Kas- 
sationshofe fungiert ein Generalprokurator (pro- 
cureur génêral) und sechs Generaladvokaten 
(avocats généraux), an jedem Appellhofe ein 
Generalprokurator mit zwei Generaladvokaten und 
einigen Substituten, bei jedem Tribunal erster 
Instanz ein Staatsanwalt (procureur de la Ré- 
publique) mit einigen Substituten, während bei 
den Polizeigerichten ein Polizeikommissar die öf- 
fentlichen Interessen vertritt. — Die Advokaten 
bilden bilden einen hochangesehenen Stand; sie 
haben einen eigenen Disziplinarrat mit einem 
Bätonnier an der Spitze. Die Avouts dürfen eine 
Sache nicht vor Gericht führen, sondern nur Rat 
erteilen oder die Vorarbeiten vor der Gerichtsver- 
handlung besorgen. — Ausnahmegerichte sind 
verfassungswidrig; jedoch bestehen verschiedene von 
dem Gesetze vorgesehene Spezialgerichte: die Ver- 
waltungs= (höchstes der Staatsrat), Kriegs= und 
Seegerichte, die Disziplinarkammern der Notare 
und Anwälte und die Disziplinarbehörden für das 
Unterrichtswesen. Der Rechnungshof (cour 
des comptes) ist Kontrollorgan für das Rech- 
nungswesen und hat Gerichtsbarkeit über die 
Kassenbeamten des Staates, der Gemeinden und 
Wohltätigkeitsanstalten. 
IV. Kirche und Schule. Das Christentum 
fand in Frankreich frühzeitig Eingang; schon unter 
Mark Aurels Verfolgungen (um 170) wurden die 
blühenden Gemeinden in Lyon und Vienne durch 
Martyrien verherrlicht. Die Synode von Arles 
314 zählte 33 Bischöfe, und im Jahre 361 redet 
eine Synode von Paris schon im Namen der Ec- 
clesia gallicana, deren schönste Zierde damals 
Martin von Tours, der mit „apostolischer Gnade 
ausgerüstete Apostel“ Galliens, war. Die Taufe 
Chlodwigs (496) machte die Franken zum schir- 
menden Hort der Kirche, und mit Pippin kam 751 
eine Dynastie auf den Thron, welche eine sichere 
Stütze des Papsttums wurde, das seinerseits die 
„erstgeborne Tochter der Kirche“ in hervorragen- 
der Weise auszeichnete. Die ersten Kapetinger 
stützten sich hauptsächlich auf den Klerus, und auch 
im Zeitalter der Kreuzzüge stand die erstarkende 
Königsmacht in gutem Einvernehmen mit der 
Kirche. Von Frankreich gingen die Reformbewe- 
gung von Cluny, der Gottesfriede, die Kreuzzugs- 
bewegung und mehrere große Orden (Zisterzienser, 
Kartäuser, Prämonstratenser usw.) aus. Bald je- 
doch traten Königtum und Papsttum einander in 
offenem Kampfe gegenüber (Philipp IV. und 
Bonifaz VIII.); dieses unterlag und geriet in 
Abhängigkeit von den französischen Königen („Ba- 
bylonische Gefangenschaft“ zu Avignon, 1305/77). 
Dem Widerstreben gegen den päpstlichen Stuhl 
blieb auch der hohe Klerus nicht fern, der sich da- 
bei stets auf alte Rechte der gallikanischen Kirche 
berief und ihnen in der Pragmatischen Sanktion
	        
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