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krafttreten des Trennungsgesetzes (9. Dez. 1905)
vom Staate bezahlt wurden, und zwar erhalten die-
jenigen, die zu diesem Termin 60 Jahre alt und
schon 30 Jahre durch den Staat besoldet waren,
3¾ ihres Gehalts, aber höchstens 1500 Francs,
diejenigen, die 45 Jahre alt und schon 20 Jahre
im besoldeten Dienste waren, ihr halbes Gehalt
lebenslänglich. Die andern, welche am 9. Dez.
1905 besoldet, aber kürzere Zeit im Dienst waren,
sollten je nach der Größe der Gemeinde und dem
Aufhören oder der Fortsetzung ihres pfarramtlichen
Wirkens auf 4 oder 8 Jahre in bestimmten Zeit-
räumen, drittelweise vermindert, ihre bisherigen
Bezüge erhalten. Der achtjährige Bezug war aber
abhängig gemacht von einer Bescheinigung durch
die örtliche Kultusgenossenschaft, die von dem
Trennungsgesetz als Trägerin und Repräsentantin
der Rechte und Pflichten der Kirche gedacht war.
Diese Kultusgenossenschaften kamen aber wegen des
päpstlichen Verbotes nicht zustande, und infolge-
dessen entzogen Regierung und Parlament der
Kirche das Eigentum an Kirchen, Seminarien und
Pfarrhäusern, die, je nachdem, dem Staate oder
der Gemeinde zugesprochen wurden. Dafür wurden
Nutznießungsbestimmungen erlassen (Gesetz vom
2. Jan. 1907; s. dazu die Erklärung der Bischöfe
vom 29. Jan. 1907), wobei die kirchlichen Ge-
bäude und ihr beweglicher, dem Kultus dienender
Inhalt bis auf weiteres als nur zum Kultusge-
brauch bestimmt erklärt wurden. Um die Kirche
für Kultuszwecke benützen zu können, hat mangels
einer Kultusgenossenschaft oder einer nach dem
Vereinsgesetz von 1901 gebildeten Vereinigung
der Geistliche einen Nutznießungsvertrag mit dem
Präfekten oder dem Ortsbürgermeister (je nach
Zugehörigkeit des Kirchengebäudes) zu schließen.
Der Gebrauch des Gebäudes ist unentgeltlich, doch
hat der Geistliche persönlich für die Reparatur-,
Versicherungs= usw. Kosten aufzukommen. Er ist
auchnur persönlich Träger der Zuwendungen, die zu
gottesdienstlichen Zwecken gemacht werden, und hat
überhaupt die ganze Geschäftsgebarung, aber ohne
die gesetzliche Pflicht der Buchführung. Die Bi-
schöfe führten die conseils paroissiaux als Hel-
fer der Geistlichen in den weltlichen Pfarrgeschäften
ein. Die Nutznießungsverträge über Kirchen können
bis auf 99 Jahre ausgedehnt werden, sind aber
von der Zustimmung des Gemeinderates und, bei
längerer Dauer als 18 Jahre, auch von derjenigen
des Präfekten abhängig. Die bisherigen Pfarrer-
wohnungen werden von den politischen Gemeinden
den Geistlichen zur Miete überlassen.
An dieser Stelle muß auch die Rede sein von
dem Schicksal des Stiftungsvermögens der Kirche,
das vor allem zur Fundierung von Seelenmessen
dient. Der Plan, auch dieses wie die sonstigen
kirchlichen Kapitalien und Konventikel zu beschlag-
nahmen, ließ sich nicht ganz durchführen. Der
Ausweg, Priestergenossenschaften mit der Erfül-
lung der an den Stiftungskapitalien hängenden
Verpflichtungen zu betrauen, fand nicht die oberste
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Frankreich.
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hierarchische Billigung. Das Briandsche Devo-
lutionsgesetz und weitere daran sich knüpfende Maß-
nahmen hatten dann die Aufgabe, die Rechtsan-
sprüche der Erben der Stifter von Stiftungskapi-
talien, welch letztere ihrer Bestimmung entzogen
waren, möglichst einzuschränken (1907/08).
Der Kultus in den öffentlichen Kultusgebäuden
ist öffentlich, gewisse religiöse Versammlungen in
der gemieteten Kirche können auch geschlossen sein.
Der Kultus ist öffentlich für die Katholiken, Nicht-
katholiken haben keinen Anspruch auf Zulassung.
Dem Geistlichen stehen polizeiliche Befugnisse zur
Seite. In einem Privatlokal kann der Kultus
öffentlich oder privat sein; behördliche Erlaubnis
zu privaten Kultusversammlungen ist nach dem
Gesetz von 1905 nicht erforderlich; ebensowenig
zur Eröffnung privater Kapellen.
Die vollständige Enteignung der Kirche machte
Vorkehrungen zur Sicherung der Fortsetzung des
Kultus und der Existenz der Priester sowie des
priesterlichen Nachwuchses nötig. So wurde der
Denier du culte ins Leben gerufen, eine regel-
mäßige Sammlung für das Dihzesanbudget, zu
der die einzelnen Pfarrer ihren bestimmten Anteil
zu leisten haben; von einer individuellen Besteue-
rung sowie auch von disziplinären Zwangsmitteln
wurde abgesehen. Die Geistlichen bildeten außer-
dem freie, nicht ausdrücklich behördlich genehmigte
Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit. Endlich
entstand auch die Alliance des pretres ouvriers.
Zum Zwecke des Zusammenhaltes der Pfarrei,
die keine öffentlich rechtliche Unterlage mehr hat,
wird das livre de paroisse und das livre des
ames geführt. Die bisherigen Pfarrgrenzen bleiben
dieselben, soweit nicht, wie z. B. in Paris, eine
Teilung und Mehrung erfolgte.
Die allgemeine Organisation der Kirche wurde
auf einer Anzahl von Versammlungen der Bischöfe
beraten. Diese Versammlungen, der Verkehr der
Bischöfe untereinander sowie mit Rom sind durch
die Trennung ebenso frei geworden wie die Be-
setzung der vakanten Bischofssitze. Diese Versamm-
lungen beschlossen über die Organisation des Kultus,
den Kultuspfennig, die Priesterseminare und die
Gliederung der Kirche zu praktischen Zwecken; es
wurden Zentral-(Diözesan-), Arrondissements-und
Pfarrkomitees (s. oben Pfarrbeiräte) eingerichtet.
Die Protestanten scheiden sich in Reformierte
(früher Hugenotten; an 560 000, im Südwesten,
besonders im Departement Gard), in Lutheraner
(an 80 000; in den Dep. Seine, Doubs und
Haute-Saöne), die beide vor der Trennung von
Kirche und Staat staatlich anerkannt waren, und
in einige freie Kirchen (an 10 000). Die Refor-
mierten stehen unter einem Zentralrat mit 1906:
101 Konsistorien, 533 Pfarreien und 639 Pa-
storen; die Lutheraner (Bekenner der Augsburgi-
schen Konfession) unter einer Generalsynode mit
6 Konsistorien, 49 Pfarreien und 62 Pastoren. —
Der israelitische Kultus steht unter der Leitung
eines Zentralkonsistoriums in Paris, dem 4 Kon-
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