Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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gestellten Entschädigung gegen Abtretung des 
Grundstücks im Rechtsweg beanspruchen will. 
Wird das Unternehmen nicht in Benutzung des 
ganzen Enteignungsgegenstands durchgeführt, so 
steht in Preußen dem zeitigen Eigentümer des durch 
die Enteignung verkleinerten Grundstücks ein Vor- 
kaufsrecht auf den nichtbenutzten Gegenstand zu. 
Statt dieses Vorkaufsrechts ist in Frankreich ein 
Rückforderungsrecht bezüglich des Enteignungs- 
gegenstandes begründet. In Hessen besitzt der Ent- 
eignete bis zum Ablauf von drei Jahren seit dem 
Enteignungsbeschluß bei Aufgabe des Unternehmens 
oder Weiterveräußerung des Enteignungsgegen- 
standes ein Rückforderungsrecht und für weitere 
fünf Jahre ein Vorkaufsrecht. In Baden und 
Württemberg erlischt das Enteignungsrecht, wenn 
der Unternehmer nicht binnen bestimmter Frist 
nach Feststellung der Enteignungsobjekte auf Er- 
mittlung der Entschädigung klagt und diese nicht 
binnen weiterer Frist bezahlt. 
Das mit nur wenigen Strichen angedeutete 
bunte Bild der deutschen Enteignungsgesetzgebung 
läßt den Erlaß eines Enteignungsgesetzes für das 
Deutsche Reich erwünscht erscheinen. Das B.G.B. 
hat von der reichsgesetzlichen Reglung des Ent- 
eignungsrechts abgesehen; Art. 109 des Einf.= 
Ges. beschränkt sich auf die Aufstellung des Sur- 
rogationsprinzips für alle ausf Grund eines Reichs- 
gesetzes oder nach Maßgabe der Landesgesetze statt- 
findenden Zwangsenteignungen. 
Literatur. Hübner, Deutsches Privatrecht 
(1908); Grünhut im Handwörterbuch der Staats- 
wissenschaften III (1900); für Preußen: Luther, 
E.3= u. Fluchtliniengesetz (1906); Dernburg, Das 
bürgerl. Recht im Reich u. in den Einzelstaaten; 
für Osterreich: Randa, Eigentumsrecht 1 (1889); 
laa in Elsters Wörterbuch der Volkswirtsch. 
5. Ein neues Moment hat die Novelle zu dem 
preußischen Gesetz betreffend Maßnahmen zum 
Schutze des Deutschtums in der Ostmark vom 
20. März 1908 in die Enteignungsgesetzgebung 
gebracht. Durch diese Novelle wurde der preußi- 
chen Regierung als Waffe in dem Kampf, der 
ich um den Grund und Boden der Ostmark ent- 
sponnen hat, das Recht der Enteignung polnischen 
Grundbesitzes verliehen. Die Regierung verlangte 
dieses Recht im Interesse der Sicherheit des preu- 
Kischen Staats, die durch die polnische Bevölkerung 
gefährdet sei, und im Interesse der Stärkung des 
deutschen Elements. Es handelt sich also hier, wie 
auch in den erregten Debatten, welche die Regie- 
rungsforderung in beiden Häusern des preußischen 
Landtags hervorrief, mehrfach anerkannt wurde, 
um eine Enteignung aus politischen 
Gründen, deren Objekt im letzten Grund nicht 
die Sache, sondern die Person, nicht das enteig- 
nete Grundstück, sondern der enteignete Besitzer 
ist; denn eine persönliche Eigenschaft, die nationale 
Zugehörigkeit, ist ausschlaggebend für die Ent- 
eignung. Dies tritt besonders auch dadurch zu- 
  
Enteignung. 
  
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tage, daß der Staat das enteignete Grundstück nicht 
behält, sondern es an dritte Personen weitergibt. 
Wenn aber politische Erwägungen und per- 
sönliche Eigenschaften eines Staatsbürgers das 
Enteignungsrecht begründen sollen, so wird damit 
der Grundsatz von der Unverletzlichkeit des Privat- 
eigentums aufgehoben. Diese Unverletzlichkeit be- 
ruht auf dem Naturrecht; sie ist eine der Grund- 
lagen der bestehenden Gesellschaftsordnung. Der 
Staat untergräbt daher das Fundament, auf dem 
er selbst aufgebaut ist, wenn er an diesem Rechte 
rüttelt. Auf diese Konseqüenz ist von den Geg- 
nern der Vorlage wiederholt und nachdrücklich hin- 
gewiesen worden. Daneben hat auch die sozial- 
demokratische Presse sie in ihrem Sinn, im Sinn 
der „Expropriation der Expropriateure“, aus- 
genutzt. Wenn einmal der Grundsatz der Unver- 
letzlichkeit des Privateigentums im Interesse der 
jeweiligen Regierungspolitik durchbrochen ist, und 
die Enteignung aus politischen Gründen durch 
Staatsgesetz sanktioniert wird, so ist in der Tat 
nicht einzusehen, warum eine künftige, nicht auf 
dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsord- 
nung stehende Regierung das heute nur für einen 
besondern Fall anerkannte politische Enteignungs- 
recht nicht auf die Gesamtverhältnisse ausdehnen 
soll. Durch das neue Gesetz werden im Gegensatz 
zu dem bisherigen Enteignungsrecht, das für alle 
Staatsbürger galt, die preußischen Staatsbürger 
polnischer Zunge unter ein Ausnahmegesetz gestellt. 
Eine solche Enteignungsbestimmung findet sich in 
der Gesetzgebung keines andern Kulturstaates. 
Dem Gewicht der Gründe, die gegen die Ent- 
eignung sprechen, konnten sich auch die Parteien, 
die nach langen, erregten Debatten die Annahme 
des Gesetzes herbeiführten, nicht entziehen. Dies 
beweist schon das wechselvolle Geschick der Ent- 
eignungsbestimmung und die mannigfaltigen Ab- 
änderungen und Einschränkungen, die sie erfahren 
hat. Die Regierung verlangte das Enteignungs- 
recht unbeschränkt. Dagegen wurden Bedenken 
nicht nur von seiten der grundsätzlichen Gegner 
der Polenpolitik und der Enteignung laut, auch 
die Konservativen, welche die Polenpolitik der Re- 
gierung unterstützen, hatten Bedenken. Ihre Wort- 
führer erklärten u. a., daß sie eine unbeschränkte 
Enteignung prinzipiell ablehnten, daß sie eine im 
allgemeinen nicht zu billigende Maßregel sei. Der 
Verlauf der Verhandlungen ließ darüber keinen 
Zweifel, daß nur die „Staatsraison“ die Konser- 
vativen bewog, trotz ihrer grundsätzlichen Be- 
denken der Enteignung zuzustimmen. Überzeugend 
vertraten die Redner der Opposition, besonders 
die Zentrumsabgeordneten Graf Praschma, 
Dr Porsch und Graf Spee, ihren Standpunkt. 
In der zweiten Lesung am 16. Jan. 1908 wies 
Graf Praschma auf die Tragweite des vom Mi- 
nisterpräsidenten Fürsten Bülow aufgestellten 
Grundsatzes hin, daß man in dem Kampf mit den 
Polen vor den äußersten Mitteln nicht zurück- 
schrecken solle; die Enteignung sei tatsächlich nicht
	        
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