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svstem aus staatsrechtlichen, und des Episkopalis=
mus, welcher dasselbe aus kirchlichen Erwägungen
bekämpft. Der Territorialismus geht von römisch-
rechtlichen Anschauungen aus, ist inhaltlich nur
eine Wiederholung des römischen Staatskirchen-
tums, betont die unbedingte Selbständigkeit der
weltlichen Gewalt (Landeshoheit) und vindiziert
dem weltlichen Herrscher auf Grund des römischen
Staatskirchentums gewisse Rechte in Bezug auf
die äußere Ordnung der Kirche (Kirchenhoheit).
Das Episkopalsystem stellte im 15. Jahrh. ins-
besondere in seinen hauptsächlichsten Vertretern
d'Ailly und Gerson, die Theorie von der Superio-
rität des allgemeinen Konzils über den Papst auf.
Das Resultat des gemeinsamen Kampfes der engen
Verbündeten, Territorialismus und Episkopalis=
mus, gegen das System der päpstlichen Zentral-
gewalt, wie es seit dem 11. bis 13. Jahrh. zur
juristischen Ausbildung und rechtlichen Herrschaft
gelangte, war der Gallikanismus.
Die Grundlage des französischen Staats-
kirchenrechts bildet der zum Rechtssprichwort er-
hobene Satz: Rex Francorum superiorem in
temporalibus non agnoscit, von Papst Inno-
zenz III. im Jahre 1213 feierlich anerkannt
(c. 28 X 5. 33). Durch Verbot der Lehre des
römischen Rechts in Paris und Frankreich wollte
der Papst, wie er selbst sagt, die Unabhängigkeit
Frankreichs gegen die Legisten schützen, welche dem
Kaiser als dominus mundi eine Jurisdiktion über
alle christlichen Fürsten und Nationen zuschrieben.
Dieser Rechtssatz nun wurde bald von französischer
Seite gegen den Papst selbst gewendet, um die
Unabhängigkeit der weltlichen Gewalt von ihm
festzustellen (Eichmann, De recursu ab abusu
[1903)). Zunächst bestritt der königliche Advokat
Pierre Dubois in seiner Schrift Quaestio de
potestate papae die Lehre der Kanonisten, daß
der Papst Herrscher aller Menschen sei. Nach
Publikation der Bulle Unam sanctam Boni-
faz'’ VIII. (18. Nov. 1302) schien das alte Vor-
recht Frankreichs: Rex Francorum superiorem
in temporalibus non agnoscit, beseitigt. König
Philipp der Schöne rief zur Verteidigung des-
selben die Professoren der Universität Paris in die
Schranken, welche das Rüstzeug in diesem litera-
rischen Kampf lieferten, nämlich Marsilius von
Padua, Johannes von Jandun, den Minoriten
Wilhelm von Occam und vor allem den Domini-
kaner Johannes von Paris (De potestate regia
et papali). Der Nachfolger Bonifaz' VIII., Papst
Klemens V., mußte im Jahre 1306 Frankreich
von der Bulle Unam sanctam wieder ausnehmen
(Privil. Meruit c. 2 Extravag. comm. 5, 7 unter
Anerkennung des Staates und des Königs Un-
abhängigkeit auf weltlichem Gebiete. Um dieselbe
Zeit stellte Marsilius von Padua, unterstützt von
seinen Kollegen an der Pariser Hochschule, dem
Dominikaner Johannes von Paris und dem Mi-
noriten Ubertino von Casale, bezüglich der Kirchen-
verfassung dem Papalsystem das Episkopal-=
Gallikanismus.
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system gegenüber, welches er in seinem 1324 er-
schienenen Defensor pacis dahin formulierte:
Der Primat des Papstes habe nur den Zweckh, die
Einheit der Kirche zu repräsentieren und zu erhalten,
er sei primatus honoris, nicht jurisdictionis;
die Fülle der Kirchengewalt komme dem Episkopat
zu; das Konzil stehe über dem Papste. Von be-
deutsamer Weiterentwicklung für diese Rechtsan-
schauungen waren die Beschlüsse der vom König
Philipp VI. nach Vincennes im Jahre 1329
einberufenen Versammlung von Prälaten und
weltlichen Rechtsgelehrten, und zur praktischen An-
wendung kamen sie in der konziliaren Bewegung
bei den allgemeinen Kirchenversammlungen von
Konstanz (1414/18) und Basel (1431/44).
So haben die monumentalen Vier gallikanischen
Artikel vom 19. März 1682, verfaßt von Bossuet
auf Betreiben Ludwigs XIV. und Colberts, schon
lange vor ihrer eigentlichen Redaktion durch des
Bischofs von Meaux geschickte Hand als Lehr-
meinung ihre Rolle gespielt. Freilich ihren letzten
Ursprung aufzusuchen, wäre eines der schwierigsten
Probleme. Denn „Ideen lassen sich nicht auf Tag
und Stunde datieren; sie kommen nicht mit dem
Stammbaum in der Hand auf die Welt“.
Anders die „gallikanischen Freiheiten“;
sie sind Gesetz, und ihr Inhalt ist vom ersten
Tage an unzweifelhaft: Ausschluß des Papstes
von jeder direkten Verfügung über AÄmter und
Einkünfte der französischen Kirche (J. Haller,
Papsttum und Kirchenreform, 1903). Ebenso
unzweifelhaft ist ihr Geburtstag. Am 18. Febr.
1407 sind sie auf einer Pariser Nationalsynode
beurkundet, am 15. Mai 1408 im Pariser Par-
lamente registriert worden. Wie ist man aber
im Jahre 1407 darauf gekommen, Freiheiten
der gallikanischen Kirche zu verkündigen oder,
wie der Ausedruck lautete, ihre alten Freiheiten
wiederherzustellen? Zunächst gebrauchte die fran-
zösische Regierung bzw. die geistige Urheberin
und eigentliche Trägerin dieser ihrer Politik, die
Pariser Universität, die Losung von den Freiheiten
der gallikanischen Kirche bei ihren Bemühungen
um Beseitigung des abendländischen Schismas;
von ihr ist sie in den Unionskampf hineingetragen
worden. Schon in der Denkschrift der Hochschule,
welche im Sommer 1394 die ganze Bewegung
einleitet, klingt einmal das Motiv an von den
ecclesiae libertates ereptae. Deutlicher spricht
eine weitere Denkschrift vom Jahre 1395. Liberté
et franchise de I’église de France ist auf der
Synode vom Jahre 1398 ein geläufiges Schlag-
wort, auf welcher zugleich der Pariser Theologie-
professor Gilles Deschamps erklärt, wenn die
Befreiung der französischen Kirche von dem päpst-
lichen Drucke bei dieser Gelegenheit nicht erreicht
werde, nachdem man so lange und so gründlich
darüber gestritten, dann werde sie überhaupt nie
zustande kommen. Die Unionsverhandlungen soll-
ten demnach nur den willkommenen Anlaß zur
Erreichung dieses Zieles bieten. Auf den zahl-