Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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nicht gesund bleiben kann, wenn die Gemeinden 
nicht gesund sind. Die Aufsicht nimmt ihre Rich- 
tung nach drei Seiten. Sie hindert Verstöße 
gegen die bestehenden Gesetze; sie bewirkt, daß 
den positiven Anforderungen der Gesetze genügt 
werde, und sie erzwingt nach freiem Ermessen 
der Staatsbehörden ein gewisses Mindestmaß 
von wirtschaftlichen Leistungen, wie es im Inter- 
esse der Gesamtentwicklung des Staates notwendig 
erscheint. Der Staat macht regelmäßig für sich 
das Recht geltend, die von der Gemeinde gewählten 
obersten Beamten zu bestätigen, damit nur fähige 
und der Staatsentwicklung wohlwollend gegen- 
überstehende Beamte in der Gemeinde angestellt 
werden. Ferner übt der Staat das Recht, die 
Finanzgebarung der Gemeinde zu beaussichtigen. 
Es steht bei ihm, gewisse Ausgaben zu erzwingen 
und gewisse Beschlüsse, namentlich wenn sie den 
Grundstock des Gemeindevermögens betreffen, vor 
ihrer Ausführung zu genehmigen. Er stellt Grund- 
sätze fest über die Anfertigung eines Voranschlages, 
die Kassenführung und die Rechnungslegung. Ein 
Prinzip läßt sich in den bezüglichen vielfachen 
Einzelvorschriften häufig nicht erkennen. Die Ent- 
scheidung, wann diese gewissermaßen obervormund- 
schaftliche Tätigkeit des Staates einzugreifen habe, 
ist meist nach reinen Nützlichkeitsgesichtspunkten 
getroffen. 
Aus der Herrschaft der Gemeinde über ihre 
Mitglieder folgt eine gewisse Verantwortlichkeit 
der Gemeinde. Diese Verantwortlichkeit zeigt sich 
in zweierlei Hinsicht. Zunächst ist die Gemeinde 
verbunden, ihren Mitgliedern das zum Leben 
äußerst Notwendige zu gewährleisten, indem sie 
im Wege der Armenpflege ihren vermögens- 
und erwerbslosen Mitgliedern, namentlich auch 
den Waisen, die Mittel zur Fristung des Lebens 
gewährt. Diese Pflicht beginnt, sobald die hierfür 
in erster Linie verpflichtete Familie versagt und 
die Ubung der christlichen Nächstenliebe nicht ge- 
nügt. Sodann haftet die Gemeinde allen Dritten 
und so auch ihren eigenen Mitgliedern gegenüber 
für alle Schäden bei Aufständen, die auf ihrem 
Gebiete stattfinden. Diese Haftung hat begriff- 
lich nur einzutreten, wenn die Aufstände einen lo- 
kalen Charakter haben, und wenn die Gemeinde 
daher in der Möglichkeit war, sie zu unterdrücken. 
IV. Unter den Aufgaben der Gemeinden 
ist eine höhere, transzendentale, und eine endliche, 
irdische zu unterscheiden. Die Gemeinde ist ebenso- 
wenig wie der Staat in ihrer Gebarung von sitt- 
lichen Gesetzen frei und unabhängig, sondern der 
göttlichen Weltordnung unterworfen und an deren 
Gesetze gebunden. Da die Wirksamkeit der Ge- 
meinde tief in die religiösen und sittlichen Inter- 
essen der Bürger eingreist, namentlich auf dem 
Gebiete der Schule, so ist es von besonderer 
Wichtigkeit, daß die Verwaltung der Gemeinden, 
deren Bevölkerung christlich ist, in christlichem 
Geiste geleitet werde. Sowohl bei Pflege der 
geistigen wie der wirtschaftlichen Interessen ihrer 
Gemeinde. 
  
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Glieder hat sich die Gemeindeverwaltung von der 
so kurzsichtigen Selbstsucht fernzuhalten, die unter 
einseitiger Betonung materieller Vorteile die ethi- 
schen Anforderungen übersehen zu dürfen glaubt. 
Die endlichen, irdischen Aufgaben der Ge- 
meinde sind teils natürliche und ursprüngliche, 
teils gewillkürte und unter dem Einfluß beson- 
derer Verhältnisse ihr zugefallen. Zu den natür- 
lichen und ursprünglichen Aufgaben der Gemeinde 
gehören zunächst die obrigkeitlichen: die Polizei 
und die Rechtspflege. Die Ordnungs= und Sicher- 
heitspolizei auf dem Gemeindegebiete und mit 
ihr das Recht, für dieses Gebiet allgemein bindende 
polizeiliche Vorschriften zu geben, ist als der Kern- 
punkt der Gemeindefreiheit zu betrachten. Eine 
Beteiligung des Staates, namentlich soweit es sich 
um die sog. hohe Polizei handelt, läßt sich nicht 
grundsätzlich abweisen; doch muß man die staat- 
liche Beschränkung der gemeindlichen Polizeibefug- 
nisse in ihrem heutigen Umfange vielfach als zu 
weitgehend bezeichnen. Da, wo und insoweit die 
Polizei Gemeindesache, ist die Gemeinde in 
Deutschland auch zuständig für polizeiliche Straf- 
verfügungen wegen Übertretungen gemäß Reichs- 
strafprozeßordnung § 453 (vgl. Art. Polizeiver= 
gehen). 
Auf dem Gebiete der Rechtspflege war in 
der mittelalterlichen deutschen Gemeinde sowohl 
die eigene Gesetzgebung wie die eigene Recht- 
sprechung hoch ausgebildet; im Laufe der Zeit ist 
sie in weitem Maße auf den Staat übergegangen. 
In Deutschland haben sich auf privatrechtlichem 
Gebiet nur spärliche Reste einer Gemeindegerichts- 
barkeit erhalten: die Gemeindegerichte von Baden 
und Württemberg, welche das Reichsgerichtsver- 
fassungsgesetz § 14 bis zu einer Kompetenz von 
60 M hat bestehen lassen; ferner auf dem Gebiete 
der freiwilligen Gerichtsbarkeit mehrfach das Vor- 
mundschafts= und Verlassenschaftswesen, in Baden 
auch das Grundbuchwesen und in ganz Deutsch- 
land auf Grund des Reichszivilstandsgesetzes vom 
6. Febr. 1875 die Führung der Zivilstandsregister 
(ogl. Art. Personenstand). Die frühere Gerichts- 
barkeit der Gemeinde auf dem Gebiete des Han- 
dels ist in Deutschland völlig beseitigt. Dagegen 
hat ihre Gerichtsbarkeit auf dem Gebiete des Ge- 
werbes neuerdings eine immer weitere Ausdehnung 
erfahren. § 142 der Reichsgewerbeordnung be- 
stimmt: „Ortsstatuten können die ihnen durch das 
Gesetz überwiesenen gewerblichen Gegenstände mit 
verbindlicher Kraft ordnen. Dieselben werden 
nach Anhörung beteiligter Gewerbetreibender auf 
Grund eines Gemeindebeschlusses abgefaßt. Sie 
bedürfen der Genehmigung der höheren Verwal- 
tungsbehörde.“ Die Gewerbeordnung kennt als 
solche Gegenstände: die Einführung des Bedürfnis- 
nachweises für die Erlaubnis zum Betrieb der 
Gastwirtschaft und zum Ausschanke von gei- 
stigen Getränken (§ 33) sowie zum Betrieb des 
Pfandleihegewerbes (8 34), die Einführung der 
Verpflichtung zum Besuche einer Fortbildungs- 
  
 
	        
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