Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

473 474 
die Handwerke, nur als Hilfs= und Nebengewerbe zösischen Städten eine gemeindliche Selbständig- 
erscheinen. Die einfachen, stabilen Verhältnisse keit sichert. Die Gutsbezirke treten in größerer 
sind einer ruhigen, gleichmäßigen Entwicklung Ausdehnung in Deutschland nur in den sieben 
günstig, dagegen der Ausbildung von Unter= östlichen Provinzen Preußens und in Mecklen- 
nehmungsgeist und selbständigem Streben eher burg, in geringerer in Hannover, Schleswig-Hol- 
hinderlich; die sozialen Unterschiede werden selten stein und Hessen-Nassau auf. Eine ähnliche Or- 
schroff und treten hinter der wirtschaftlichen Gleich= ganisation der großen Güter kennen einige öster- 
förmigkeit zurück. In den Stadtgemeinden tritt reichische Länder (Galizien, Bukowina). 
die bäuerliche Beschäftigung der Bewohner, wenn W0o ein gesundes Gemeindeleben erblühen soll, 
sie auch selten ganz fehlt, in den Hintergrund; ist nächst der Berücksichtigung der Sondereigen- 
Handel und Gewerbe gelangen zu selbständiger tümlichkeiten von Stadt und Land nichts so wichtig 
Bedeutung. Die durch sie bedingte raschere Ent= wie eine verständnisvolle Anknüpfung an die Ver- 
Gemeindeordnung. 
wicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse befördert 
Unternehmungslust, kräftiges Streben nach Besse- 
rung der eigenen Lage, Selbständigkeit der Denk- 
art und Erweiterung des Blickes, die dann auf die 
Pflege der Kunst und Wissenschaft fördernd zurück- 
wirken. Die sozialen Unterschiede werden häufig 
so schroff, daß sie eine fortwährende Spannung 
der Geister im Gefolge haben, deren Uberwindung 
besondere Aufmerksamkeit erfordert. Dieselben ver- 
fassungsmäßigen Einrichtungen sind daher selten 
für Stadt= und Landgemeinden gleichzeitig brauch- 
bar. Das Naturgemäße ist die Anpassung be- 
sonderer Formen für jede dieser beiden Hauptarten 
der Gemeinden. 
Aus den Stadtgemeinden hat sich ein neuer 
Typus herausentwickelt, die Großstädte, welche 
durch die Größe ihrer Einwohnerzahl, die all- 
umfassende Tätigkeit ihrer Bürger und die Aus- 
dehnung ihrer kulturellen Zwecke infolge ihrer 
finanziellen Leistungsfähigkeit nach vielen Rich- 
tungen hin eine Sonderstellung einnehmen und 
darum in der verwaltungsrechtlichen Organisation 
eine besondere Reglung verlangen. Bei Betrach- 
tungder Landgemeinden sind die sog. Gutsbezirke 
(s. Sp. 482) anzuschließen, die keine Gemeinden 
sind, schon weil ihnen die korporative Organisation 
fehlt, aber infolge ihrer der Größe eines Gemeinde- 
bezirks regelmäßig gleichkommenden räumlichen 
Ausdehnung im Staate vielfach dieselben Funktio- 
nen auszuüben haben wie die Gemeinden. Wo sie 
in größerer Zahl bestehen, beanspruchen sie eben- 
falls eine besondere Berücksichtigung in den Ge- 
meindeordnungen. 
Gemeinschaftliche Gemeindeordnungen für 
Stadt= und Landgemeinden haben wir in ganz 
Süddeutschland außer Baden und Hessen, ferner 
in den früher kurhessischen und nassauischen Ge- 
bieten der preußischen Provinz Hessen-Nassau; 
im übrigen sind in Deutschland besondere Ge- 
meindeordnungen für Stadt= und Landgemeinden 
in Geltung. Eine Sonderstellung als Großstadt 
hat in Deutschland in ausgeprägter Weise nur 
Berlin, indem es keinem Regierungsbezirksverbande 
unterliegt, was vielfache Sonderbestimmungen zur 
Folge hat. Andere große Städte bilden Kreise 
für sich. So hatte Preußen Ende 1905 90 Stadt- 
kreise. In England bildet London einen besondern 
County; in Frankreich hat Paris sich eine Sonder- 
stellung erobert, welche ihm allein von allen fran- 
schiedenheit der Provinzen mit ihren 
historisch gewordenen, zum Teil auch durch die 
wirtschaftlichen Verhältnisse bedingten Eigentüm- 
lichkeiten. Wenn in Frankreich alles selbständige 
Gemeindeleben daniederliegt, so liegt der Grund 
zu einem Teile gewiß darin, daß seit der großen 
Revolution das Gemeindewesen für ganz Frank- 
reich durch einheitliche Gesetze geregelt wurde. 
Das andere Extrem zeigt England, wo die der 
leitenden Hand des Staates gänzlich entbehrende 
Entwicklung der Stadt= und Landgemeinden zu 
den unübersehbarsten Verschiedenheiten in wirt- 
schaftlich ganz gleichstehenden Gegenden geführt 
hat. Eine gesundere Entwicklung zeigt Deutsch- 
land. Die Klein= und Mittelstaaten gaben sich 
eigene Gemeindeordnungen, ohne auf solche Unter- 
schiede Rücksicht nehmen zu müssen; Bayern achtete 
wenigstens die besondere Entwicklung der Pfalz 
und Preußen ebenso die Eigentümlichkeiten seiner 
westlichen Provinzen. 
Charakteristische Unterschiede zeigen auch die 
Gemeindeordnungen, je nachdem sie mehr die 
Selbstverwaltung der Gemeinde auf ihrem natur- 
eigenen Gebiet oder mehr die Rechte des Staates 
gegenüber der Gemeindeverwaltung betonen, und 
je nachdem sie dem selbstgegebenen Statutar- 
rechte der Gemeinde einen größeren oder geringe- 
ren Spielraum gewähren. Nachdem das vorige 
Jahrhundert in Deutschland eine übertriebene Be- 
tonung der Rechte des Staates gebracht hatte, ist 
seit der v. Steinschen Reform in Preußen 1808 
eine Entwicklung zugunsten der sog. Gemeinde- 
freiheit (Gemeindeautonomie) bemerkbar. Eng- 
loand und Frankreich zeigen auch hier wieder die 
Extreme. Die französische Gemeindeverfassung 
schließt Ortsstatuten völlig aus und beschränkt die 
Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung so weit, 
daß die Gemeindevertretung nur beraten und be- 
schließen kann, die Ausführung ihrer Beschlüsse 
aber staatlichen Organen, den Präfekten, überlassen 
muß, auch im übrigen auf Schritt und Tritt von 
diesen kontrolliert und beaufsichtigt wird. England 
dagegen hat eine fast völlige Ungebundenheit der 
Gemeinde auf diesem Gebiete, die wohl nur dank 
der Nüchternheit und Besonnenheit der Engländer 
infolge ihrer hier glücklichen Naturanlage zu keinen 
größeren Mißständen führt. 
In Preußen läßt den weitesten Spielraum für 
die gemeindliche Selbstbestimmung im Wege der 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.