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die Handwerke, nur als Hilfs= und Nebengewerbe zösischen Städten eine gemeindliche Selbständig-
erscheinen. Die einfachen, stabilen Verhältnisse keit sichert. Die Gutsbezirke treten in größerer
sind einer ruhigen, gleichmäßigen Entwicklung Ausdehnung in Deutschland nur in den sieben
günstig, dagegen der Ausbildung von Unter= östlichen Provinzen Preußens und in Mecklen-
nehmungsgeist und selbständigem Streben eher burg, in geringerer in Hannover, Schleswig-Hol-
hinderlich; die sozialen Unterschiede werden selten stein und Hessen-Nassau auf. Eine ähnliche Or-
schroff und treten hinter der wirtschaftlichen Gleich= ganisation der großen Güter kennen einige öster-
förmigkeit zurück. In den Stadtgemeinden tritt reichische Länder (Galizien, Bukowina).
die bäuerliche Beschäftigung der Bewohner, wenn W0o ein gesundes Gemeindeleben erblühen soll,
sie auch selten ganz fehlt, in den Hintergrund; ist nächst der Berücksichtigung der Sondereigen-
Handel und Gewerbe gelangen zu selbständiger tümlichkeiten von Stadt und Land nichts so wichtig
Bedeutung. Die durch sie bedingte raschere Ent= wie eine verständnisvolle Anknüpfung an die Ver-
Gemeindeordnung.
wicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse befördert
Unternehmungslust, kräftiges Streben nach Besse-
rung der eigenen Lage, Selbständigkeit der Denk-
art und Erweiterung des Blickes, die dann auf die
Pflege der Kunst und Wissenschaft fördernd zurück-
wirken. Die sozialen Unterschiede werden häufig
so schroff, daß sie eine fortwährende Spannung
der Geister im Gefolge haben, deren Uberwindung
besondere Aufmerksamkeit erfordert. Dieselben ver-
fassungsmäßigen Einrichtungen sind daher selten
für Stadt= und Landgemeinden gleichzeitig brauch-
bar. Das Naturgemäße ist die Anpassung be-
sonderer Formen für jede dieser beiden Hauptarten
der Gemeinden.
Aus den Stadtgemeinden hat sich ein neuer
Typus herausentwickelt, die Großstädte, welche
durch die Größe ihrer Einwohnerzahl, die all-
umfassende Tätigkeit ihrer Bürger und die Aus-
dehnung ihrer kulturellen Zwecke infolge ihrer
finanziellen Leistungsfähigkeit nach vielen Rich-
tungen hin eine Sonderstellung einnehmen und
darum in der verwaltungsrechtlichen Organisation
eine besondere Reglung verlangen. Bei Betrach-
tungder Landgemeinden sind die sog. Gutsbezirke
(s. Sp. 482) anzuschließen, die keine Gemeinden
sind, schon weil ihnen die korporative Organisation
fehlt, aber infolge ihrer der Größe eines Gemeinde-
bezirks regelmäßig gleichkommenden räumlichen
Ausdehnung im Staate vielfach dieselben Funktio-
nen auszuüben haben wie die Gemeinden. Wo sie
in größerer Zahl bestehen, beanspruchen sie eben-
falls eine besondere Berücksichtigung in den Ge-
meindeordnungen.
Gemeinschaftliche Gemeindeordnungen für
Stadt= und Landgemeinden haben wir in ganz
Süddeutschland außer Baden und Hessen, ferner
in den früher kurhessischen und nassauischen Ge-
bieten der preußischen Provinz Hessen-Nassau;
im übrigen sind in Deutschland besondere Ge-
meindeordnungen für Stadt= und Landgemeinden
in Geltung. Eine Sonderstellung als Großstadt
hat in Deutschland in ausgeprägter Weise nur
Berlin, indem es keinem Regierungsbezirksverbande
unterliegt, was vielfache Sonderbestimmungen zur
Folge hat. Andere große Städte bilden Kreise
für sich. So hatte Preußen Ende 1905 90 Stadt-
kreise. In England bildet London einen besondern
County; in Frankreich hat Paris sich eine Sonder-
stellung erobert, welche ihm allein von allen fran-
schiedenheit der Provinzen mit ihren
historisch gewordenen, zum Teil auch durch die
wirtschaftlichen Verhältnisse bedingten Eigentüm-
lichkeiten. Wenn in Frankreich alles selbständige
Gemeindeleben daniederliegt, so liegt der Grund
zu einem Teile gewiß darin, daß seit der großen
Revolution das Gemeindewesen für ganz Frank-
reich durch einheitliche Gesetze geregelt wurde.
Das andere Extrem zeigt England, wo die der
leitenden Hand des Staates gänzlich entbehrende
Entwicklung der Stadt= und Landgemeinden zu
den unübersehbarsten Verschiedenheiten in wirt-
schaftlich ganz gleichstehenden Gegenden geführt
hat. Eine gesundere Entwicklung zeigt Deutsch-
land. Die Klein= und Mittelstaaten gaben sich
eigene Gemeindeordnungen, ohne auf solche Unter-
schiede Rücksicht nehmen zu müssen; Bayern achtete
wenigstens die besondere Entwicklung der Pfalz
und Preußen ebenso die Eigentümlichkeiten seiner
westlichen Provinzen.
Charakteristische Unterschiede zeigen auch die
Gemeindeordnungen, je nachdem sie mehr die
Selbstverwaltung der Gemeinde auf ihrem natur-
eigenen Gebiet oder mehr die Rechte des Staates
gegenüber der Gemeindeverwaltung betonen, und
je nachdem sie dem selbstgegebenen Statutar-
rechte der Gemeinde einen größeren oder geringe-
ren Spielraum gewähren. Nachdem das vorige
Jahrhundert in Deutschland eine übertriebene Be-
tonung der Rechte des Staates gebracht hatte, ist
seit der v. Steinschen Reform in Preußen 1808
eine Entwicklung zugunsten der sog. Gemeinde-
freiheit (Gemeindeautonomie) bemerkbar. Eng-
loand und Frankreich zeigen auch hier wieder die
Extreme. Die französische Gemeindeverfassung
schließt Ortsstatuten völlig aus und beschränkt die
Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung so weit,
daß die Gemeindevertretung nur beraten und be-
schließen kann, die Ausführung ihrer Beschlüsse
aber staatlichen Organen, den Präfekten, überlassen
muß, auch im übrigen auf Schritt und Tritt von
diesen kontrolliert und beaufsichtigt wird. England
dagegen hat eine fast völlige Ungebundenheit der
Gemeinde auf diesem Gebiete, die wohl nur dank
der Nüchternheit und Besonnenheit der Engländer
infolge ihrer hier glücklichen Naturanlage zu keinen
größeren Mißständen führt.
In Preußen läßt den weitesten Spielraum für
die gemeindliche Selbstbestimmung im Wege der