Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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ihnen die Erfüllung der allgemeinen Menschheits- 
zwecke unmöglich gemacht ist. 
Eine andere Frage freilich ist, ob eine weise 
Politik diesen Augenblick abwarten und ob sie 
sich mit der Abstellung dieser Mißstände begnügen 
werde. Schon die Staatslehrer des klassischen 
Altertums erblicken in der Ausbildung eines 
schroffen Gegensatzes von arm und reich eine Ge- 
fahr für den Fortbestand des Staatswesens. Bei 
der gesteigerten Auffassung, die sie von den Be- 
fugnissen des Staates haben, sinnen sie auf Mit- 
tel und Wege, um die Bürger in gleichmäßigem, 
mittlerem Besitze zu erhalten. Hierbei folgen ihnen 
in der modernen Welt höchstens die Vertreter der 
absoluten Gleichheit und der sozialen Revolution. 
Dagegen ist allerdings auch bei den Regierungen 
und den erhaltenden Parteien in der Neuzeit mehr 
und mehr die Uberzeugung zum Durchbruch ge- 
kommen, daß die Fürsorge für die niederen 
Klassen die wichtigste Aufgabe der Politik ist. 
Der Erfüllung derselben dienen die Einrichtungen 
zugunsten der kranken, verunglückten, invaliden 
und altersschwachen Arbeiter sowie der Hinter- 
bliebenen der verstorbenen, dienen die Maßregeln, 
welche dazu bestimmt sind, die wirtschaftlich selb- 
ständigen kleinen Gewerbetreibenden und Land- 
wirte zu schützen und vor dem Aufgehen in der 
Masse der abhängigen Lohnarbeiter zu bewahren. 
Nichts wäre freudiger zu begrüßen, nichts hätte 
mehr Anspruch auf Unterstützung und Förderung, 
als wenn es gelänge, durch einen weiteren Fort- 
schritt der Technik, etwa durch ausgiebige Ver- 
wertung elektrischer Kraftübertragung, eine De- 
zentralisation in der industriellen Produktion zu 
erzielen und auch dem kleineren Unternehmer, in 
gewissen Zweigen wenigstens, einen erfolgreichen 
Wettbewerb zu ermöglichen. Schutz und För- 
derung des kleinen und mittleren Besitzes sollte 
für die gesamte Staatsverwaltung, für Eisenbahn- 
politik und Zollgesetzgebung jederzeit der wichtigste 
Gesichtspunkt sein. Anderes steht damit im Zu- 
sammenhange. Die schwerste Last des modernen 
Staatslebens, die Militärpflicht, ist fast aller- 
wärts auf die Schultern der gesamten männlichen 
Jugend, nicht mehr allein der mittellosen, gelegt; 
daß die Reichen zu den Kosten des Staatshaus- 
halts nicht nur nach Verhältnis, sondern in ver- 
stärktem Maße beitragen, die Vorteile staatlicher 
Einrichtungen aber tunlichst allen zugute kommen 
sollen, ist eine politische Maxime, deren Gültigkeit 
wenige in der Gegenwart offen bestreiten werden. 
Fügt man dem dann noch gesetzgeberische Maß- 
nahmen gegen die Auswüchse des Börsenspiels 
hinzu, so dürften im wesentlichen die Punkte an- 
gedeutet sein, von welchen durch staatliche Mittel 
eine Einschränkung der auf die Steigerung der 
Ungleichheit in den Besitzverhältnissen gerichteten 
Entwicklung erhofft werden kann. 
  
  
Gleichheit. 
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so ist auch hier die Frage des Rechts von der der 
  
4. Das Verlangen nach Gleichheit der 
Bildung. Wird in gleicher Weise die Forderung wenn auch die späteren Lebensverhältnisse der so 
einer allgemeinen und gleichen Bildung erörtert, Ausgebildeten die gleichen wären. Sie gehört zu 
politischen Zweckmäßigkeit zu unterscheiden. Will 
man sodann von einem Rechte aller auf die gleiche 
Bildung reden, so wird man sich zunächst über 
Inhalt und Umfang dieser Bildung verständigen 
müssen. Daß den Armen das Evangelium ge- 
predigt werde, daß die neue Lehre von der Gottes- 
kindschaft und der Erlösung durch Christus und 
die Verheißung überschwenglichen Lohnes im Jen- 
seits nicht das Geheimnis einer Schule sei, son- 
dern sich an alle wende, die da Ohren haben, zu 
hören, hat der Heiland selbst als Beleg seiner 
göttlichen Sendung angeführt, und die Kirche hat 
nicht aufgehört, seinem Beispiele zu folgen. In 
der Religion, in der Lehre des Christentums, 
bietet sich einem jeden der vollständigste Aufschluß 
dar über die größten und wichtigsten Fragen, die 
den menschlichen Geist bewegen können, über Ur- 
sprung und Zweck der Welt, über die Weltstellung 
des Menschen, über seine Aufgaben und Aus- 
sichten, über Pflicht und Sünde. Kein philo- 
sophisches System hat auch nur annähernd dem 
elwas Ahnliches an die Seite setzen können. An 
diesem Schatze echter und wahrer Bildung können 
und sollen alle in gleicher Weise teilnehmen; aber 
an ihn pflegen gerade diejenigen am wenigsten zu 
denken, die am lautesten für die Verbreitung von 
Bildung unter dem Volke eifern. — Das ge- 
steigerte Kulturleben der Gegenwart verlangt von 
einem jeden den Besitz eines gewissen Maßes von 
Kenntnissen und Fähigkeiten, ohne welche er weder 
seinem nächsten Berufe ordentlich vorstehen noch 
die ihm obliegende staatliche Aufgabe erfüllen 
kann. Durch Gründung und Unterhaltung von 
Volksschulen hat der Staat in fast allen Kultur- 
ländern diesem Bedürfnisse Rechnung getragen, 
in vielen dem Angebote der Lehre den Lernzwang 
und selbst den Schulzwang hinzugefügt. Versteht 
man also unter dem Rechte auf Bildung das 
Recht, sich dieses notwendige Maß von Wissen 
und Können anzueignen, so ist dasselbe nicht nur 
überall anerkannt, sondern vielfach durch positive 
Gesetzgebung und staatliche Zwangsmittel ver- 
stärkt. Darüber hinaus steht es jedem frei, sich 
das Maß von Bildung anzueignen, welches seinen 
Interessen und Neigungen sowie seinen Fähigkeiten 
entspricht. Der Staat bietet auch hierzu seine 
Mittel an, von deren Gebrauch niemand grund- 
sätzlich ausgeschlossen ist und die in der Regel auch 
den Unbemittelten zugänglich gemacht sind. Ein 
Zwang aber besteht nicht, und so wird tatsächlich 
die Ungleichheit der Bildung in entscheidender 
Weise in der Jugend begründet. 
Soll nun etwa hier Wandel geschaffen, soll im 
Namen der Gleichheit eine Einrichtung getroffen 
werden, derzufolge sämtlichen Kindern des Volkes 
der gleiche Bildungsstoff nach dem gleichen Unter- 
richtsplane zugeführt würde? Eine solche For- 
derung könnte mit Fug nur dann erhoben werden,
	        
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