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ihnen die Erfüllung der allgemeinen Menschheits-
zwecke unmöglich gemacht ist.
Eine andere Frage freilich ist, ob eine weise
Politik diesen Augenblick abwarten und ob sie
sich mit der Abstellung dieser Mißstände begnügen
werde. Schon die Staatslehrer des klassischen
Altertums erblicken in der Ausbildung eines
schroffen Gegensatzes von arm und reich eine Ge-
fahr für den Fortbestand des Staatswesens. Bei
der gesteigerten Auffassung, die sie von den Be-
fugnissen des Staates haben, sinnen sie auf Mit-
tel und Wege, um die Bürger in gleichmäßigem,
mittlerem Besitze zu erhalten. Hierbei folgen ihnen
in der modernen Welt höchstens die Vertreter der
absoluten Gleichheit und der sozialen Revolution.
Dagegen ist allerdings auch bei den Regierungen
und den erhaltenden Parteien in der Neuzeit mehr
und mehr die Uberzeugung zum Durchbruch ge-
kommen, daß die Fürsorge für die niederen
Klassen die wichtigste Aufgabe der Politik ist.
Der Erfüllung derselben dienen die Einrichtungen
zugunsten der kranken, verunglückten, invaliden
und altersschwachen Arbeiter sowie der Hinter-
bliebenen der verstorbenen, dienen die Maßregeln,
welche dazu bestimmt sind, die wirtschaftlich selb-
ständigen kleinen Gewerbetreibenden und Land-
wirte zu schützen und vor dem Aufgehen in der
Masse der abhängigen Lohnarbeiter zu bewahren.
Nichts wäre freudiger zu begrüßen, nichts hätte
mehr Anspruch auf Unterstützung und Förderung,
als wenn es gelänge, durch einen weiteren Fort-
schritt der Technik, etwa durch ausgiebige Ver-
wertung elektrischer Kraftübertragung, eine De-
zentralisation in der industriellen Produktion zu
erzielen und auch dem kleineren Unternehmer, in
gewissen Zweigen wenigstens, einen erfolgreichen
Wettbewerb zu ermöglichen. Schutz und För-
derung des kleinen und mittleren Besitzes sollte
für die gesamte Staatsverwaltung, für Eisenbahn-
politik und Zollgesetzgebung jederzeit der wichtigste
Gesichtspunkt sein. Anderes steht damit im Zu-
sammenhange. Die schwerste Last des modernen
Staatslebens, die Militärpflicht, ist fast aller-
wärts auf die Schultern der gesamten männlichen
Jugend, nicht mehr allein der mittellosen, gelegt;
daß die Reichen zu den Kosten des Staatshaus-
halts nicht nur nach Verhältnis, sondern in ver-
stärktem Maße beitragen, die Vorteile staatlicher
Einrichtungen aber tunlichst allen zugute kommen
sollen, ist eine politische Maxime, deren Gültigkeit
wenige in der Gegenwart offen bestreiten werden.
Fügt man dem dann noch gesetzgeberische Maß-
nahmen gegen die Auswüchse des Börsenspiels
hinzu, so dürften im wesentlichen die Punkte an-
gedeutet sein, von welchen durch staatliche Mittel
eine Einschränkung der auf die Steigerung der
Ungleichheit in den Besitzverhältnissen gerichteten
Entwicklung erhofft werden kann.
Gleichheit.
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so ist auch hier die Frage des Rechts von der der
4. Das Verlangen nach Gleichheit der
Bildung. Wird in gleicher Weise die Forderung wenn auch die späteren Lebensverhältnisse der so
einer allgemeinen und gleichen Bildung erörtert, Ausgebildeten die gleichen wären. Sie gehört zu
politischen Zweckmäßigkeit zu unterscheiden. Will
man sodann von einem Rechte aller auf die gleiche
Bildung reden, so wird man sich zunächst über
Inhalt und Umfang dieser Bildung verständigen
müssen. Daß den Armen das Evangelium ge-
predigt werde, daß die neue Lehre von der Gottes-
kindschaft und der Erlösung durch Christus und
die Verheißung überschwenglichen Lohnes im Jen-
seits nicht das Geheimnis einer Schule sei, son-
dern sich an alle wende, die da Ohren haben, zu
hören, hat der Heiland selbst als Beleg seiner
göttlichen Sendung angeführt, und die Kirche hat
nicht aufgehört, seinem Beispiele zu folgen. In
der Religion, in der Lehre des Christentums,
bietet sich einem jeden der vollständigste Aufschluß
dar über die größten und wichtigsten Fragen, die
den menschlichen Geist bewegen können, über Ur-
sprung und Zweck der Welt, über die Weltstellung
des Menschen, über seine Aufgaben und Aus-
sichten, über Pflicht und Sünde. Kein philo-
sophisches System hat auch nur annähernd dem
elwas Ahnliches an die Seite setzen können. An
diesem Schatze echter und wahrer Bildung können
und sollen alle in gleicher Weise teilnehmen; aber
an ihn pflegen gerade diejenigen am wenigsten zu
denken, die am lautesten für die Verbreitung von
Bildung unter dem Volke eifern. — Das ge-
steigerte Kulturleben der Gegenwart verlangt von
einem jeden den Besitz eines gewissen Maßes von
Kenntnissen und Fähigkeiten, ohne welche er weder
seinem nächsten Berufe ordentlich vorstehen noch
die ihm obliegende staatliche Aufgabe erfüllen
kann. Durch Gründung und Unterhaltung von
Volksschulen hat der Staat in fast allen Kultur-
ländern diesem Bedürfnisse Rechnung getragen,
in vielen dem Angebote der Lehre den Lernzwang
und selbst den Schulzwang hinzugefügt. Versteht
man also unter dem Rechte auf Bildung das
Recht, sich dieses notwendige Maß von Wissen
und Können anzueignen, so ist dasselbe nicht nur
überall anerkannt, sondern vielfach durch positive
Gesetzgebung und staatliche Zwangsmittel ver-
stärkt. Darüber hinaus steht es jedem frei, sich
das Maß von Bildung anzueignen, welches seinen
Interessen und Neigungen sowie seinen Fähigkeiten
entspricht. Der Staat bietet auch hierzu seine
Mittel an, von deren Gebrauch niemand grund-
sätzlich ausgeschlossen ist und die in der Regel auch
den Unbemittelten zugänglich gemacht sind. Ein
Zwang aber besteht nicht, und so wird tatsächlich
die Ungleichheit der Bildung in entscheidender
Weise in der Jugend begründet.
Soll nun etwa hier Wandel geschaffen, soll im
Namen der Gleichheit eine Einrichtung getroffen
werden, derzufolge sämtlichen Kindern des Volkes
der gleiche Bildungsstoff nach dem gleichen Unter-
richtsplane zugeführt würde? Eine solche For-
derung könnte mit Fug nur dann erhoben werden,