Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Verbot der Verwandtenehe wurde allmählich die 
Macht der Sippe bedeutungslos. Die gleichen 
sittlichen Pflichten für beide Ehegatten schafften 
der Familie eine bessere und festere Grundlage und 
schützten Frau und Kinder vor der Willkürherr= 
schaft des Mannes. Die Familie wurde geadelt 
durch die Aufgabe, Kinder für das Gottesreich zu 
erzeugen und zu erziehen. 
Nicht erst vom christlichen Standpunkt aus 
sondern schon auf Grund einer exakten Geschichts- 
forschung müssen wir jene Versuche zurückweisen, 
die eine allmähliche Entwicklung der Familien= 
organisation aus einem unorganisierten Geschlechts- 
leben heraus aufstellen. Lediglich eine Uberspan- 
nung des Entwicklungsgedankens konnte die Ge- 
schichte der Familie einzwängen wollen in Entwick- 
lungsstufen, beginnend mit der Promiskuität, 
dem regellosen Geschlechtsverkehr ohne bindende 
Formen (Spencer, Lubbock, Morgan u. a.). Von 
der Wissenschaft ist bis jetzt noch kein einziges Volk, 
auch nicht auf der untersten Kulturstufe, nachge- 
wiesen worden, dessen Geschlechtsverhältnisse auch 
nur hindeuteten auf einen Zustand der Promiskui- 
tät (Große, Ratzel, Peschel, R. Hildebrand, 
Below). Vielmehr konnte festgestellt werden: „Die 
festgefügte Familie ist keineswegs eine späte Er- 
rungenschaft der Zivilisation, sondern sie besteht 
schon auf der untersten Kulturstufe als Regel ohne 
Ausnahme“ (Große). 
Auch die damit zusammenhängenden Versuche 
von Bachofen, Morgan u. a., eine Entwicklungs- 
geschichte der Familie auf dem Mutterrechte 
aufzubauen, müssen als verfehlt zurückgewiesen 
werden. Unter Mutterrecht bezeichnet man jenes 
System der Familienorganisation, wonach das 
Kind nicht zum Vater in einem juristischen Ver- 
wandtschaftsverhältnis steht, sondern zur Mutter 
und zu einer Person, die mit der Mutter wieder 
eine gemeinsame Mutter hat. Bei einigen wenigen 
Völkern kommt dieser Zustand vor. Daß er aber 
der Rest einer ersten Entwicklungsstufe sei, dagegen 
erklärt sich sehr scharf die historische Kritik (Del- 
brück, Ratzel, Zimmer, Westermark, Große, Bren- 
tano, Hildebrand). Below sagt mit Recht: „Un- 
zulässig ist. Erscheinungen, die sehr gut Produkte 
einer späteren Entwicklung bzw. Entartung sein 
können, ohne weiteres als Uberbleibsel eines Ur- 
zustandes zu bezeichnen.“ 
Wenn von Mutterrecht die Rede ist, muß man 
scharf unterscheiden, ob damit die Mutterfolge 
und die weibliche Linie oder aber das Matri- 
archat, die Weiberherrschaft (Gynokratie), 
gemeint ist. Sehr oft werden diese Begriffe ver- 
mengt. Eine eigentliche Weiberherrschaft scheint 
nur bei den Huronen und Irokesen bestanden zu 
haben. Was aber die häufiger vorkommende 
Mutterfolge anbetrifft, so ist auch sie nicht aus 
vorherbestehender Promiskuität zu erklären. Ratzel 
sagt darüber: „Man hat hierin den Rest einer ehe- 
losen Zeit sehen wollen, aber es kann ebensogut 
die Ausgeburt einer späteren juristischen Tüftelei 
Familie. 
  
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sein, wie sie gerade den mit Rechtsfragen sich sehr 
gern beschäftigenden Negern oder Indianern nicht 
fernliegt.“ Große erklärt die Mutterfolge einfach 
aus der Scheu vor blutsnaher Vermischung. 
Westermark führt die Mutterfolge zurück auf die 
Vielweiberei. Bei manchen Stämmen wohnen die 
Weiber desselben Mannes in getrennten Hütten 
mit ihren Kindern, um Streitigkeiten zu verhüten. 
Am leichtesten und sichersten wurden und werden 
da die Kinder desselben Vaters nach der Mutter- 
linie berechnet und unterschieden. Bei schwachen 
Stämmen möchte im Interesse der Selbsterhaltung 
und Wehrhaftigkeit das Mutterrecht durch- 
gedrungen sein, indem Ehen mit fremden Stamm- 
angehörigen nur unter der Bedingung geschlossen 
wurden, daß der Mann und die Kinder der Mutter 
folgten und so den Stamm verstärkten. 
Die Formen der Familie, die sich geschicht- 
lich feststellen lassen, können unterschieden werden 
in Polyandrie (Vielmännerei), Polygamie (Viel- 
weiberei) und Monogamie (Einehe). Die Levirats- 
ehe der Juden bildete keine besondere Form der 
Familie, denn die ehegesetzliche Vorschrift machte 
lediglich dem nächsten Verwandten eines kinderlos 
Verstorbenen zur Pflicht, diesem mit der Witwe 
Nachkommenschaft zu erwecken. Innerhalb der auf- 
gezählten Formen der Familie kann man weiter- 
hin Endogamie oder Exogamie feststellen, je nach- 
dem, wie etwa bei den Persern, die Frau grund- 
sätzlich aus derselben Familie genommen wurde 
oder aber außerhalb der Verwandtschaft gewählt 
werden mußte. Auch Beispiele örtlicher Endo= und 
Exogamie finden sich. 
Die Polyandrie läßt am wenigsten ein 
gesundes Familienleben mit richtiger Kindererzie- 
hung aufkommen, da sie häufig mit Unfruchtbarkeit 
geschlagen ist, da der Vater des Kindes meist un- 
bekannt bleibt und so das Autoritätsprinzip schwer 
geschädigt wird. Allerdings ist die Vielmännerei 
dort, wo sie auftritt, gewöhnlich durch Stammes- 
satzung geregelt und darf nicht mit Zügellosigkeit 
verwechselt werden. Sie hat durchschnittlich ihren 
Grund in dem Mangel an Frauen, und gewöhn- 
lich war nur Brüdern gestattet, mit derselben Frau 
und im gemeinsamen Besitz ihrer Kinder zu leben. 
Die Polyandrie kommt nur bei tief gesunkenen 
Völkern und Stämmen vor, so z. B. bei den 
Alöuten und Konjagen u. a. Aus der vorchrist- 
lichen Geschichte ist die Sitte bei den Spartanern 
öffentlich anerkannt gewesen. 
Viel häufiger als die Vielmännerei findet sich 
die Vielweiberei. Sie ist heute noch durch 
den Mohammedanismus eine weitverbreitete Form 
der Ehe. Bei vielen Naturvölkern wird sie eben- 
falls, soweit es die Mittel erlauben, geübt. Auch 
die Polygamie verkümmert die Familie. Denn sie 
läßt kein wahrhaft sittliches Verhältnis zwischen 
Mann und Frau aufkommen. Die Frau ist ent- 
würdigt. Ein ebenbürtiges Verhältnis zwischen 
den Ehegatten ist da unmöglich. Der Keim zu 
Intrigen von Neid und Eifersucht ist gegeben
	        
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