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Verbot der Verwandtenehe wurde allmählich die
Macht der Sippe bedeutungslos. Die gleichen
sittlichen Pflichten für beide Ehegatten schafften
der Familie eine bessere und festere Grundlage und
schützten Frau und Kinder vor der Willkürherr=
schaft des Mannes. Die Familie wurde geadelt
durch die Aufgabe, Kinder für das Gottesreich zu
erzeugen und zu erziehen.
Nicht erst vom christlichen Standpunkt aus
sondern schon auf Grund einer exakten Geschichts-
forschung müssen wir jene Versuche zurückweisen,
die eine allmähliche Entwicklung der Familien=
organisation aus einem unorganisierten Geschlechts-
leben heraus aufstellen. Lediglich eine Uberspan-
nung des Entwicklungsgedankens konnte die Ge-
schichte der Familie einzwängen wollen in Entwick-
lungsstufen, beginnend mit der Promiskuität,
dem regellosen Geschlechtsverkehr ohne bindende
Formen (Spencer, Lubbock, Morgan u. a.). Von
der Wissenschaft ist bis jetzt noch kein einziges Volk,
auch nicht auf der untersten Kulturstufe, nachge-
wiesen worden, dessen Geschlechtsverhältnisse auch
nur hindeuteten auf einen Zustand der Promiskui-
tät (Große, Ratzel, Peschel, R. Hildebrand,
Below). Vielmehr konnte festgestellt werden: „Die
festgefügte Familie ist keineswegs eine späte Er-
rungenschaft der Zivilisation, sondern sie besteht
schon auf der untersten Kulturstufe als Regel ohne
Ausnahme“ (Große).
Auch die damit zusammenhängenden Versuche
von Bachofen, Morgan u. a., eine Entwicklungs-
geschichte der Familie auf dem Mutterrechte
aufzubauen, müssen als verfehlt zurückgewiesen
werden. Unter Mutterrecht bezeichnet man jenes
System der Familienorganisation, wonach das
Kind nicht zum Vater in einem juristischen Ver-
wandtschaftsverhältnis steht, sondern zur Mutter
und zu einer Person, die mit der Mutter wieder
eine gemeinsame Mutter hat. Bei einigen wenigen
Völkern kommt dieser Zustand vor. Daß er aber
der Rest einer ersten Entwicklungsstufe sei, dagegen
erklärt sich sehr scharf die historische Kritik (Del-
brück, Ratzel, Zimmer, Westermark, Große, Bren-
tano, Hildebrand). Below sagt mit Recht: „Un-
zulässig ist. Erscheinungen, die sehr gut Produkte
einer späteren Entwicklung bzw. Entartung sein
können, ohne weiteres als Uberbleibsel eines Ur-
zustandes zu bezeichnen.“
Wenn von Mutterrecht die Rede ist, muß man
scharf unterscheiden, ob damit die Mutterfolge
und die weibliche Linie oder aber das Matri-
archat, die Weiberherrschaft (Gynokratie),
gemeint ist. Sehr oft werden diese Begriffe ver-
mengt. Eine eigentliche Weiberherrschaft scheint
nur bei den Huronen und Irokesen bestanden zu
haben. Was aber die häufiger vorkommende
Mutterfolge anbetrifft, so ist auch sie nicht aus
vorherbestehender Promiskuität zu erklären. Ratzel
sagt darüber: „Man hat hierin den Rest einer ehe-
losen Zeit sehen wollen, aber es kann ebensogut
die Ausgeburt einer späteren juristischen Tüftelei
Familie.
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sein, wie sie gerade den mit Rechtsfragen sich sehr
gern beschäftigenden Negern oder Indianern nicht
fernliegt.“ Große erklärt die Mutterfolge einfach
aus der Scheu vor blutsnaher Vermischung.
Westermark führt die Mutterfolge zurück auf die
Vielweiberei. Bei manchen Stämmen wohnen die
Weiber desselben Mannes in getrennten Hütten
mit ihren Kindern, um Streitigkeiten zu verhüten.
Am leichtesten und sichersten wurden und werden
da die Kinder desselben Vaters nach der Mutter-
linie berechnet und unterschieden. Bei schwachen
Stämmen möchte im Interesse der Selbsterhaltung
und Wehrhaftigkeit das Mutterrecht durch-
gedrungen sein, indem Ehen mit fremden Stamm-
angehörigen nur unter der Bedingung geschlossen
wurden, daß der Mann und die Kinder der Mutter
folgten und so den Stamm verstärkten.
Die Formen der Familie, die sich geschicht-
lich feststellen lassen, können unterschieden werden
in Polyandrie (Vielmännerei), Polygamie (Viel-
weiberei) und Monogamie (Einehe). Die Levirats-
ehe der Juden bildete keine besondere Form der
Familie, denn die ehegesetzliche Vorschrift machte
lediglich dem nächsten Verwandten eines kinderlos
Verstorbenen zur Pflicht, diesem mit der Witwe
Nachkommenschaft zu erwecken. Innerhalb der auf-
gezählten Formen der Familie kann man weiter-
hin Endogamie oder Exogamie feststellen, je nach-
dem, wie etwa bei den Persern, die Frau grund-
sätzlich aus derselben Familie genommen wurde
oder aber außerhalb der Verwandtschaft gewählt
werden mußte. Auch Beispiele örtlicher Endo= und
Exogamie finden sich.
Die Polyandrie läßt am wenigsten ein
gesundes Familienleben mit richtiger Kindererzie-
hung aufkommen, da sie häufig mit Unfruchtbarkeit
geschlagen ist, da der Vater des Kindes meist un-
bekannt bleibt und so das Autoritätsprinzip schwer
geschädigt wird. Allerdings ist die Vielmännerei
dort, wo sie auftritt, gewöhnlich durch Stammes-
satzung geregelt und darf nicht mit Zügellosigkeit
verwechselt werden. Sie hat durchschnittlich ihren
Grund in dem Mangel an Frauen, und gewöhn-
lich war nur Brüdern gestattet, mit derselben Frau
und im gemeinsamen Besitz ihrer Kinder zu leben.
Die Polyandrie kommt nur bei tief gesunkenen
Völkern und Stämmen vor, so z. B. bei den
Alöuten und Konjagen u. a. Aus der vorchrist-
lichen Geschichte ist die Sitte bei den Spartanern
öffentlich anerkannt gewesen.
Viel häufiger als die Vielmännerei findet sich
die Vielweiberei. Sie ist heute noch durch
den Mohammedanismus eine weitverbreitete Form
der Ehe. Bei vielen Naturvölkern wird sie eben-
falls, soweit es die Mittel erlauben, geübt. Auch
die Polygamie verkümmert die Familie. Denn sie
läßt kein wahrhaft sittliches Verhältnis zwischen
Mann und Frau aufkommen. Die Frau ist ent-
würdigt. Ein ebenbürtiges Verhältnis zwischen
den Ehegatten ist da unmöglich. Der Keim zu
Intrigen von Neid und Eifersucht ist gegeben