Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1533 
§§ 1/3), wonach der Kläger, wenn ihm der zu- 
ständige Richter das Recht weigert, vor „geistlichem 
oder auswendigem Gericht“ seine Klage anbringen 
darf. Erst die Goldene Bulle Karls IV. von 1356 
hat die Devolution an die geistlichen Gerichte be- 
seitigt. Dieselbe Goldene Bulle hat übrigens, und 
zwar auch insoweit sie den Kurfürsten ein privi- 
legium de non appellando gewährte, die Be- 
rufung an die kaiserlichen Reichsgerichte wegen 
Justizverweigerung (defectus iustitiae) ausbrück- 
lich aufrecht erhalten (XI, §§ 3, 4). Die Kammer- 
gerichtsordnung von 1495 (8 12) bestätigt die 
Zuständigkeit des Reichskammergerichts allgemein 
für den Fall, daß „das Recht kündlich versagt oder 
mit Gefährde verzogen“ wird, und in späteren 
Reichsgesetzen wird dieselbe Vorschrift wiederholt 
mit der Einschränkung, daß die Devolution an 
das Reichskammergericht wenigstens dann ein- 
treten solle, wenn dem Ansuchenden gegen die 
Justizverweigerung des ordentlichen Gerichts das 
Justizverweigerung. 
  
„nechst Obergericht, Oberkeit oder Herrschaft"“ 
keine Hilfe gewährt (Reichsabschied 1512, Tit. 4, 
§ 13; letzte Kammergerichtsordnung von 1555,. 
Tit. 26, 3 1; Deputationsabschied 1600, 8 27). 
— 3) Im Deutschen Bunde bestand zwar kein 
den einzelstaatlichen Gerichten übergeordnetes 
Bundesgericht, welches irgendwie zur Prüfung 
der von den Landesgerichten gefällten Urteile be- 
rufen gewesen wäre; gleichwohl wurde durch die 
provisorische Kompetenzbestimmung der Bundes- 
versammlung vom 12. Juni 1817 (Lit. C, § 5, 
n. Z a) und endgültig durch Art. 29 der Wiener 
Schlußakte vom 8. Juni 1820 eine Oberinstanz 
gegen Justizverweigerung geschaffen. Art. 29 
lautet: „Wenn in einem Bundesstaate der Fall 
einer Justizverweigerung eintritt und auf gesetz- 
lichen Wegen ausreichende Hilfe nicht erlangt 
werden kann, so liegt der Bundesversammlung 
ob, erwiesene, nach der Verfassung und den be- 
stehenden Gesetzen jedes Landes zu beurteilende 
Beschwerden über verweigerte oder gehemmte 
Rechtspflege anzunehmen und darauf die gericht- 
liche Hilfe bei der Bundesregierung, die zu der 
Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.“ — 
4) Die Bestimmungen des Art. 29 der Wiener 
Schlußakte sind in die Verfassung des Nord- 
deutschen Bundes vom 26. Juli 1867 als Art. 77 
auf Antrag des Abgeordneten Wiggers fast wört- 
lich gleichlautend aufgenommen worden (Stenogr. 
Bericht des Reichstages 1867, S. 672). Die 
Anderungen bestehen nur darin, daß an die Stelle 
der „Bundesversammlung“ der „Bundesrat“ ge- 
treten ist, und daß die Worte „Gesetzen jedes 
Landes“ ersetzt sind durch die genauere Fassung: 
„Gesetzen des betreffenden Bundesstaates“. Mit 
diesen Anderungen sind jene Bestimmungen auch 
in die geltende Verfassung des Deutschen Reichs 
vom 16. April 1871 (Art. 77) übergegangen. 
C. Geltendes deutsches Rechk. I. Reichs- 
recht. Für das Gebiet der ordentlichen streitigen 
  
  
Gerichtsbarkeit ist durch die Reichsjustizgesetze 
1534 
von 1877, für die freiwillige Gerichtsbarkeit 
durch das Reichsgesetz vom 17. Mai 1898 die 
Ordnung der deutschen Gerichte durchgeführt und 
das gerichtliche Verfahren so eingehend geregelt 
worden, daß in diesen Gebieten der Rechtspre- 
chung der Fall einer Justizverweigerung kaum 
mehr vorkommen wird. Dagegen mangelt es leider 
auch heute noch nicht an Fällen, in welchen die 
Rechtsuchenden wegen ungenügender Bestimmungen 
des geltenden Rechts über den negativen Kompe- 
tenzkonflikt zwischen Gerichts= und Verwaltungs- 
behörden ein Gerichtsurteilzuerlangen außer Stand 
sind. Ein besonders lehrreicher Fall ist der Rechts- 
streitzwischen Dorfgemeinde und Rittergut Blanken- 
berg darüber, wer von beiden den Dorfnachtwächter 
zu bezahlen habe; nach Anrufung von nicht we- 
niger als elf Instanzen sind den Streitenden in- 
folge widersprechender Entscheidungen des preußi- 
schen Kompetenzgerichtshofes und des Reichsgerichts 
(10. Juni 1899) schließlich sämtliche Gerichte 
verschlossen geblieben (ugl. Deutsche Juristenzei- 
tung 1899, 333; 1900, 67; Juristische Wochen- 
schrift 1899, 725). Die zahlreichen, beim deut- 
schen Reichstage einlaufenden Petitionen wegen 
„Justizverweigerung“ enthalten durchgängig nur 
Beschwerden wegen angeblich unrichtiger Rechts- 
pflege, nicht wegen mangelnder Rechtspflege. Eine 
allgemeine reichsgesetzliche Reglung der Beschwerde 
wegen Justizverweigerung ist bei Beratung des 
Reichsgerichtsverfassungsgesetzes und der Reichs- 
zivilprozeßordnung von den Abgeordneten Bähr 
und Struckmann in der Justizkommission des 
Reichstages angeregt, von der Kommission aber, 
weil diese Beschwerde in das Gebiet der reinen 
Disziplin und damit in das Gebiet der Landes- 
gesetzgebung gehöre, abgelehnt worden (Proto- 
kolle der Justizkommission zum G.V.G. 8 144 und 
zur Z. P. O. § 272). Reichsrechtlich geordnet ist 
daher nur das Einschreiten des Reichs gegen 
Justizverweigerung in höchster landesgesetzlicher 
Instanz (Art. 77 der Reichsverfassung), während 
das Vorgehen gegen Justizverweigerung in den 
unteren landesgesetzlichen Instanzen sich nach 
Landesrecht bestimmt. — 1) Die Zuständigkeit des 
Reichs für Beschwerden wegen Justizverweigerung 
setzt voraus: a) eine Justizsache, bezüglich deren 
die Rechtspflege verweigert oder gehemmt worden 
ist (s. A. I. u. II.). Die Annahme, daß zu den 
Justizsachen im Sinne der Reichsverfassung nur 
die den ordentlichen Gerichten zugewiesenen 
Rechtsstreitigkeiten gehören (Arndt), ist unbegrün- 
det. Selbst Gegenstände der Verwaltungsgerichts- 
barkeit dürften als Justizsachen im Sinne des Art. 
77anzusehen sein (anderer Ansicht: Seydel, Hänel). 
b) Die Beschwerde muß gerichtet sein gegen die 
Regierung eines deutschen Bundesstaates; Be- 
schwerden über Justizverweigerung durch eine Be- 
hörde des Reichs selbst oder durch die Behörde 
eines ausländischen Staates scheiden von der An- 
wendung des Art. 77 aus. c) Es muß der Nach- 
weis erbracht werden, daß in dem betreffenden
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.