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Kant einerseits ein Vernunftrecht entstanden, wel-
ches die Realisierung eines reinen Rechtsstaates,
abgesehen vom sinnlichen und geistigen Wohle der
Gesamtheit, zum Ziele hat und anderseits eine
kalte, gefühls= und liebeleere Vernunftmoral.
Ein Hauptmangel der Kantschen Sittenlehre ist
ferner der Formalismus ihres Prinzips und
ihrer Methode. Die Maxime des einzelnen soll
formal so beschaffen sein kraft eines synthetischen
Grundsatzes a priori, daß sie sich nicht wider-
sprechen würde auf dem Gebiete der äußern Rechts-
ordnung und der moralischen Ordnung, wenn sie
die Maxime aller einzelnen würde. So wird das
Prinzip des Nichtwiderspruches zum Prinzip der
Sittenlehre Kants. „Ich könnte zwar“, sagt er,
„die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz, zu lügen,
gar nicht wollen; denn nach einem solchen würde
es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil.
meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze
gemacht würde, sich selbst zerstören“ und sich not-
wendig „widersprechen“ müßte (Werke IV 403,
422). Ebenso würde die Ableugnung eines De-
positums „als Geset sich selbst vernichten, weil es
machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.
Ein praktisches Gesetz, das ich dafür erkenne, muß
sich zur allgemeinen Gesetzgebung gqualifizieren;
dies ist ein identischer Satz und also für sich klar“
(Werke V. 27).
In Wahrheit ist jedoch dieses Prinzip der for-
malen Identität oder des Nichtwiderspruchs ein
völlig inhaltsleeres Prinzip, dem aller mögliche
Inhalt sich unterlegen läßt; denn wenn z. B. auch
Lüge, Verleugnung des Depositums, Diebstahl,
Mord die Maxime aller einzelnen sein würde, so
wäre beziehungsweise jedes, was es ist. Offenbar
hat Kant dem Prinzip der Identität oder des
Nichtwiderspruchs das stillschweigend aufgenom-
mene und vorausgesetzte Prinzip der idealen Über-
einstimmung der Einzelwillen in einem Allgemein=
willen oder das Prinzip der allgemeinen Willens-
harmonie unterschoben. Auch dieses Prinzip faßt
er aber rein formalistisch auf, und zwar in sehr
nominalistischem Sinne. Der Allgemein-
wille gilt ihm nur als Kollektivwille, als Sammel-
wille; die Menschheit ist ihm kein sittlicher Orga-
nismus, sondern eine Summe von Völkern und
Individuen unter sittlichen Gesetzen. Die Familie
ist eine Gesellschaft freier Wesen mit dinglich-per-
sönlichen Rechten; der Staat ist „die Vereinigung
einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“
(Rechtslehre §§ 22, 45; Werke VI 276. 313) usw.
Die nominalistische Verflüchtigung und Atomi-
sierung all dieser Lebensordnungen, wie sie durch
Hobbes, Locke, Rousseau herrschend gemacht wurde,
wzeigt sich hier noch in voller Herrschaft. Wie der
Raturphilosophische Dynamismus Kants, so ist
auch dessen ethischer Atomismus noch nicht zu
einem innern Teleologismus hindurchgedrungen
im Sinne organischer Weltauffassung.
Endlich ist auch die Ableitung der materialen
Pflichten aus dem obersten Formalprinzip eine
Staatslexiton. II. 3. Aufl.
Kant.
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bloß formalistische. Am Faden des Identitäts-
gesetzes laufend und verlaufend will sie aus dem-
selben als höchstem Grundsatze alle Sätze der
Rechts= und Tugendlehre deduzieren und auf solche
Weise ein reines System des Vernunftrechts und
der Vernunftmoral a priori herstellen, abgesehen
von allen empirischen Raum= und Zeitbedingungen.
In Wahrheitwerdenjedoch die Rechts-und Tugend-
ideale anderweitig ausgenommen, in das voraus-
gesetzte Prinzip schablonenmäßig hereingenommen
und mit der Würde der Universalität geschmückt,
während sie oft nur Anschauungen sind, wie sie
unter dem Einflusse von Zeitereignissen oder auf
positive Studien hin im Geiste Kants sich gebildet
hatten. Der Bau seiner philosophischen Rechts-
und Tugendlehre ist somit nur zu oft ein Gerüste
logischer Scheindeduktionen.
Von der Grundlegung der Metaphysik der Sitten
möge sich die Kritik nun wenden zur philo-
sophischen Rechtslehre Kants, die mit der
philosophischen Tugendlehre(Sittenlehreimengeren
Sinne) die Metaphysik der Sitten ausmacht. Sie
ist Naturrechtslehre im Sinne der seit Hugo Gro-
tius herrschend gewordenen Richtung; sie will aber
das Naturrecht rein a priori konstruieren aus der
Idee der äußeren Freiheit, abgesehen von allen
realen Grundlagen des Rechts= und Staatslebens
und dessen geschichtlicher Entwicklung. Dieses
Naturrecht ist einerseits unterschieden von der
reinen Vernunftmoral, anderseits vom positiven
Recht. Von ersterer ist es dadurch unterschieden,
daß es ein System äußerlich erzwingbarer Rechte
ist. Hat aber Kant irgendwie nachgewiesen, daß
mit all denjenigen moralischen Rechten, welche
physisch erzwungen werden können, auch das mo-
ralische Recht verknüpft sei, daß sie physisch er-
zwungen werden dürfen? Hat er die Berechtigung
dieses synthetischen Urteils aus dem von ihm voraus-
gesetzten kategorischen Imperativ erwiesen? Hat er
die Natur der Zwangsrechte deduziert? Das kann,
wie schon J. G. Fichte (s. d. Art.) darzulegen
suchte, nicht behauptet werden.
Vom positiven Rechte ist das Naturrecht
dadurch unterschieden, daß es schon Geltung hat
vor aller positiven Aussprache und Sanktion, und
für alle menschlichen Rechtssatzungen normative
Bedeutung und Währung besitzt. Anstatt jedoch
zur Anerkennung zu bringen, daß ein derartiges
Idealrecht rein als solches nur auf grundwesent-
liche Bestimmungen sich zu beschränken habe, um
seine weitere konkrete Füllung und Erfüllung und
Präzisierung durch das je nach Umständen sehr
verschiedene historische Recht (Gewohnheits= und
Gesetzesrecht) zu erhalten, hat Kant gleich den
früheren Naturrechtslehrern demselben vielfach ein
Phantasierecht unterschoben, wie es unter den
Einflüssen der Zeitverhältnisse sich in ihm aus-
gebildet hatte, und so nächst I. G. Fichte, dessen
„Grundlage des Naturrechts“ nahezu gleichzeitig
mit seiner Rechtslehre erschien, wesentlich zu dem
Mißkredit beigetragen, in welchen alsbald die
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