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Geschwister und Geschwisterlinder sind steuerfrei,
wenn die Grundstücke im Laufe der dem Anfalle
vorhergehenden 5 Jahre der Erbschaftssteuer unter-
lagen, sie zahlen die halbe Steuer, wenn der
frühere Anfall zwischen 5 und 10 Jahren zurück-
liegt. Der Betrag der Erbmasse wird nach dem
gemeinen Werte errechnet, bei Grundstücken nach
dem Ertragswerte zur Zeit des Anfalls. Die
Steuer wird von dem ganzen Erwerbe jedes ein-
zelnen Beteiligten für diesen besonders unter Be-
rücksichtigung seines Verhältnisses zum Erblasser
berechnet, kommt aber nur von dem Betrage zur
Erhebung, um den der Erwerber bereichert wor-
den ist. Der steuerpflichtige Erwerb ist binnen 3
bzw. 6 Monaten dem zuständigen Steueramte
schriftlich anzumelden, auf dessen Verlangen ist
eine spezifizierte Steuererklärung abzugeben. Die
Erhebung der Steuer geschieht durch die Einzel-
staaten, denen ein Drittel des Rohertrags der Erb-
schaftssteuer überlassen ist, neben dem ihnen auch
die Erträge aus einer etwaigen Besteuerung der
Deszendenten und Ehegatten und aus etwaigen
höheren als den reichsgesetzlichen Steuersätzen ver-
bleibt. Schenkungen unter Lebenden unterliegen
der gleichen Besteuerung wie der Erwerb von
Todes wegen.
Um das Gatten= und Kindererbe zu erfassen,
hatte der Bundesrat 1908 eine Ausgestaltung
der Reichserbschaftsbesteuerung durch eine Nach-
laßsteuer in Vorschlag gebracht, die neben der
Reichserbschaftssteuer von 1906 erhoben werden
sollte. Danach sollte jeder Nachlaß steuerpflichtig
sein, dessen reiner Wert den Betrag von 20 000 M
übersteigt. Die Steuer sollte bei Nachlässen von
20 000 bis 30 000 M 0,5%, und steigend bei
Nachlässen von mehr als 1 Mill. M 3 % be-
tragen. Die Vorlage wurde in der mit ihrer Vor-
beratung betrauten Reichstagskommission mit
Stimmengleichheit abgelehnt. Dasselbe Schicksal
hatte ein in der Kommission eingebrachter Antrag
auf eine Deszendenten-Erbschaftssteuer. Im Reichs-
tag erneuerte sich der Kampf um die Erbanfall-
steuer für Deszendenten und kinderlose Ehegatten.
Die Gegner siegten 1909 mit geringer Stimmen-
zahl. An diese Niederlage knüpfte äußerlich der
Abgang des Reichskanzlers Fürsten v. Bülow und
der Übertritt des Reichsschatzsekretärs Sydow in
das preußische Handelsministerium an. Dadurch
erhielt der Streit um die Nachlaß= und Erbschafts-
steuer eine stärkere politische Färbung, wie ihm
naturgemäß eigen war. Das Erbrechtsverhältnis
der Kinder und des Ehegatten zum Erblasser ist ein
anderes wie das aller sonstigen Erben; nur bei
ihm setzt der Tote den Lebenden in die Gewere.
Daraus folgt Berechtigung und Notwendigkeit
der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung. Ist
bei allen Seitenverwandten und bei Nichtver-
wandten die Erbschaftssteuer für diese eine Ab-
gabe auf den von ihnen nicht verdienten Wert-
zuwachs, für Kinder und Ehegatten ist sie eine
Minderung des selbsterworbenen, bereits ander-
Nachsteuer — Nation ufw.
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weitig zu versteuernden Vermögens. Hier trifft sie
ungleich und deshalb ungerecht und vielfach hart.
Sie trifft den Grundbesitz schwerer wie das be-
wegliche Vermögen, das ihr in gesetzlich zulässiger
Weise in weitem Umfang entzogen werden kann.
Sie führt zur Lockerung der Familienbeziehungen
und zu deren teilweisen Auflösung in Rechts-
geschäfte; sie zwingt die Ehegatten zur Verein-
barung der Gütertrennung als ihren Güterstand,
den überlebenden Ehegatten und die Kinder zu
Erbauseinandersetzungen und zur Austragung
der Ausgleichungsansprüche. Mit Unrecht ist die
Nachlaßsteuer als allgemeine Besitzsteuer bezeichnet
worden.
Literatur. Eheberg, Finanzwissenschaft
(101909) und die dort angegebene Literatur.
Spahn.]
Nachsteuer s. Auswanderung (Bd 1, Sp.
475).
Nation, Nationalitätsprinzip.
I. Begriff der Nation. Zur Klarlegung des
viel umstrittenen Begriffs der Nation ist es not-
wendig, die einzelnen Merkmale zu durchgehen,
an denen der allgemeine Sprachgebrauch eine Na-
tion von der andern unterscheidet. Zum Begriff
der Nation scheint vor allem eine gewisse physio-
logische Verwandtschaft unter den Indi-
viduen einer größeren Volksmenge zu gehören.
Manche erblicken das Unterscheidungszeichen einer
Nation von der andern in der gemeinsamen Ab-
stammung von demselben Stammvater und be-
rufen sich für diese Ansicht auf die Etymologie des
Wortes Nation (natio von nasci). Allein diese
Auffassung ist zu eng. Die Herkunft von dem-
selben Stammvater unterscheidet wohl die Stämme
und Rassen, aber nicht die Nationen. Unter
Stamm versteht man eine von demselben Vater
herkommende Gruppe von Familien. Die Rasse
bezeichnet eine größere Bevölkerungsgruppe, die
sich durch vererbliche Körperbildung in Bezug auf
Gesichtswinkel, Schädelform, Hautfarbe und Haare
auffällig von andern Gruppen unterscheidet. Da
die Einheit des Menschengeschlechts sowohl durch
die christliche Offenbarung als durch die verglei-
chende Sprachforschung und Völkerkunde verbürgt
ist (s. Sp. 1078 ff), so können die Rassen nur
durch allmähliche Differenzierung des gemeinsamen
Menschentypus infolge von Klima, Ernährung
und Lebensweise entstanden sein. Nach der eben
genannten Ansicht soll nun die Nation eine Men-
schengruppe innerhalb derselben Rasse darstellen,
die von demselben Stamme herkommt und diesen
gemeinsamen Ursprung durch den ganzen äußern
Typus, insbesondere die Sprache, den Charakter
u. dgl. bekundet. Nach dieser Auffassung wäre
die Nation ein erweiterter Stamm oder ein Mittel-
glied zwischen Stamm und Rasse; allein gegen
diese Ansicht spricht die Tatsache, daß es viele
moderne Nationen gibt, denen das Merkmal der ge-
meinsamen Abstammung von demselben Familien-
vater fehlt. Die französische Nation z. B. ist aus