Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gegen die patrimoniale Staatsauffassung, der Land diese sah man seit Montesquien in der englischen 
und Leute nur als landesherrliches Hausgut er= Verfassung, wo das Zweikammersystem herrschte. 
schienen, ein wohltätiges Gegengewicht gebildet Und doch war auch in England nicht nur das 
und oft im 15. Jahrh. gegen den Landesherrn den Oberhaus ständisch aristokratisch, sondern auch das 
Staatsgedanken vertreten. Und zweifelsohne haben Unterhaus. 
die Landstände auch anderswo sich um die Kon= Den Anfang mit der Durchführung der konsti- 
solidierung der Territorien große Verdienste er= tutionellen Theorie auf dem Festland machte die 
worben, indem sie sich kräftig gegen Veräußerungen französische Verfassung von 1814, welche die alten 
und Teilungen des Landes wehrten. Anderseits Zeiten mit den neuen verbinden wollte, indem die 
haben allerdings auch die Stände der Verschmel= zu schaffende Erste Kammer eine besondere Ver- 
zung einzelner Landesteile zu einem Staatsganzen tretung der Reste der alten ständischen Gesellschaft, 
oft großen Widerstand geleistet. Die Handhabung die Zweite Kammer eine auf Wahl beruhende Ver- 
des Steuerbewilligungsrechts durch die Stände tretung der modernen staatsbürgerlichen Gesell- 
schützte gar oft die Untertanen der Stände vor schaft sein sollte. Da aber die französische Revo- 
nutzlosen Geldforderungen der Landesherren. So lution die alte ständische Gliederung hinweggefegt 
zeigten sich in vielen Staaten des Kontinents im hatte, so war es unmöglich, dieser einstigen stän- 
Lauf der ständischen Entwicklung Ansätze einer dischen Gesellschaft eine Vertretung zu geben. 
Wandlung der Stände zu Staatsorganen. Die Ahnlich ging es in den andern romanischen 
Stände betrachten sich da häufig als die politische Staaten. 
Nation und damit als Repräsentanten des ganzen Anders lagen die Dinge in Deutschland. Der 
Volks (in Frankreich schon 1484); die Klagen Art. 13 der deutschen Bundesakte von 1815 ver- 
und Beschwerden, die sie auf Reichs- und Land= sprach, daß in allen Bundesstaaten eine „land- 
tagen vorbringen, gelten ihnen als Beschwerden ständische Verfassung“ stattfinden solle; aber ge- 
des von ihnen vertretenen Landes. rade diese Worte zeigen deutlich, daß man sich des 
3. Die ständische Verfassung im modernen Gegensatzes von Ständetum und Repräsentativ- 
Staat. Der neuzeitliche Staat, der im Monarchen system nicht klar bewußt war. Und die politi- 
alle Rechte der Staatsgewalt schrankenlos ver= schen Kämpfe der neueren Zeit sind zum großen 
einigt, hatte zwar im 17. und 18. Jahrh. das Teil um die Entscheidung der Frage geführt wor- 
Ständetum soweit zurückgedrängt, als es mit dem den, ob den ständischen Einrichtungen des Mittel- 
absoluten Staat unvereinbar erschien, nämlich in alters im modernen Staat noch eine Stelle ge- 
der Verfassung, dagegen ließ er zunächst noch den bühre; daher kam es auch, daß man vielfach das 
ganzen sozialen Organismus, das Ständewesen Ständewesen überhaupt verwechselte mit dessen 
selbst, bestehen. So unterscheidet auch noch das politischer Organisation. Indem man das Stände- 
Allgemeine preußische Landrecht von 1794 den tum in seiner politischen Organisation bekämpfte, 
Adel-, Bürger= und Bauernstand. Alles historisch verwarf man zugleich mit Unrecht das Stände- 
Gewordene war hier noch aufrecht erhalten: die wesen überhaupt. 
sozialen und öffentlich-rechtlichen Privilegien der Das Ständewesen aber wurzelt in der mensch- 
Ritterschaft, die wirtschaftlichen, insbesondere die lichen Gesellschaft. Die Gemeinschaft besonderer 
gewerblichen Monopole der Städte und ihres Verhältnisse und Interessen muß auch zur Aus- 
Bürgertums, die Unfreiheit des Bauernstandes. bildung von Klassen oder Ständen führen. Und 
Nicht nur in den deutschen, sondern auch in den weil die ständischen Unterschiede im Wesen der 
meisten romanischen Staaten war die Gesellschaft Gesellschaft begründet sind, so werden sie auch 
ständisch gegliedert, bis dieser Bau in und nach immer und überall zu finden sein. Dagegen wird 
der französischen Revolution zusammenstürzte. An es wichtig sein, zu sehen, wie diese ständische Glie- 
Stelle der ständischen Gesellschaft trat nunmehr derung ihren politischen und rechtlichen Ausdruck 
allenthalben die „bürgerliche Gesellschaft“ des findet. Es wird niemand leugnen, daß eine soziale 
19. Jahrh., die vom Grundsatz der allgemeinen Gliederung der Gesellschaft in Klassen und eine 
Rechtsgleichheit beherrscht ist. Alle Standesvor= daraus sich ergebende in Berufsstände stets vor- 
rechte sollen von jetzt an aufgehoben sein. Die handen sein wird. Inwieweit ein Stand auch poli- 
Zertrümmerung der ständischen Gesellschaft er= tische Bedeutung gewinnt, hängt von seiner tat- 
folgte in Frankreich durch die Revolution, in den sächlichen sozialen Bedeutung, der Zahl seiner 
süd= und westdeutschen Staaten durch die Gesetz- 1 Zugehörigen und den allgemeinen innern politi- 
gebungen der Zeit des Rheinbunds und in Preußen schen Verhältnissen eines Staats ab. Damit aber 
durch die Stein-Hardenbergschen Sozial= und ist die ständische Gliederung noch nicht zu einer 
Wirtschaftsreformen von 1807/11. Nachdem so rechtlichen geworden. Erst wenn der Staat in 
zunächst die Freiheit des Individuums, des Besitzes l seinen Verfassungsgesetzen einem Stand als solchem 
und des Erwerbs überall erreicht war, erstrebte bestimmte Befugnisse oder Rechte einräumt, erlangt 
man insbesondere nach den Befreiungskriegen auch dieser Stand auch rechtliche Bedeutung und die 
in Deutschland die staatsbürgerliche Freiheit, d. h. Träger solcher politischer Standesrechte sind dann 
die Anteilnahme an der Gesetzgebung in den sog. Stände im engeren Sinn, die, wie wir oben sahen, 
konstitutionellen Verfassungen. Das Vorbild fuͤr einst als Repräsentanten des Landes galten. Im 
  
 
	        
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