Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

Cannageschema nach Schlieffenscher Uberdeutung, angewen- 
det. Alle Vorbedingungen sind bei den Einzelschlägen grund- 
verschieden: das Stärkeverhältnis des zu vernichtenden Fein- 
des und der eigenen Truppenmacht, das Gelände, bald 
im eigenen Land, bald auf feindlichem Boden, und dieser 
wieder grundverschieden nach Bedeutung und Jahrezzeit; 
bald ist der Feind in Vorwärtsbewegung, bald steht er im 
freien Felde oder in verstärkter Stellung, bald mit nahem, 
bald mit fernerem Rückhalt an seine Festungen. 
In den Ostpreußenfeldzügen verfügt der Feldherr allein 
über seine Gesamtbräfte, im Polenfeldzug heischt das Zu- 
sammenarbeiten mit dem Heere der Verbündeten besondere 
Rücksichten auf deren Kriegsziele. Schließlich zeigt auch 
ein solcher Rückblick die Grenzen, welche die Menschenzahl 
des Gegners dem Feldherrngenius bei dem heutigen Stand 
der Kampfmittel zuweist. 
In der Tannenbergschlacht vernichtet der Feldherr mit 
135 Ooo Mann in besonders für den Angreifer günstigem 
Gelände ein feindliches Heer von 220 O00 Mann, das in 
sein Verderben buchstäblich hineinrennt und dabei eingekreist 
wird. In dem anschließenden Feldzug gegen die Niemen- 
Armee gelingt es nur, bei etwa gleicher Stärke den Gegner 
Rennenkampf, der in günstiger Stellung zwischen Meer 
und Masurenseen die Deutschen erwartet, durch einseitige 
Umfassung zurückzuwerfen, allerdings unter Riesenverlusten 
für die Russen. Zweifellos hätten wenige Korps mehr auf 
deutscher Seite genügt, die feindliche Niemen-Armee durch 
doppelte Umfassung restlos einzukreisen oder durch entspre- 
chende Verstärkung des deutschen Umfassungsflügels von 
der russischen Grenze wegzudrängen und schließlich gegen 
den Memelstrom und das Haff zu drücken oder im freien 
Felde zu vernichten. 
Im ersten Polenfeldzug im Oktober 1914 gelingt es 
bei der ungeheuren Weite des Raums den einzelnen Teil- 
kräften des Gegners, sich dem Vernichtungsschlage recht- 
zeitig zu entziehen und auf die Weichselfestungen und auf 
ihre eben zur Dampfwalze ansetzende Hauptmacht zurück- 
zugehen. 
Bei dem Entscheidungskampfe in Polen im November 
und Dezember 1914 muß der Feldherr mit seinen insgesamt 
höchstens 425 do0 deutschen Streitern, die durch k. und k. 
Truppenverbände etwa auf eine Million Gesamtstärke er- 
gänzt werden, gegenüber der mehr als dreifachen Ubermacht 
281 
der ihm direkt gegenüberstehenden russischen Hauptmacht 
zunächst wie David nur trachten, den Riesen Goliath zu 
Fall zu bringen. Wohl kann er dessen rechte Seite zer- 
malmen und damit sein weiteres Vorwärtsschreiten völlig 
lähmen, zur erdrückenden Umklammerung reicht aber die 
tatsächlich verfügbare Menschenzahl bei der Breite der 
Kampffront (Thorn— Krakau mehr als 300 Kilometer) 
nicht aus. 
Auch im Winterfeldzug in Ostpreußen zwingen die Aus- 
dehnung der Front zwischen der Weichsel und dem Memel- 
strom — die Entfernung Plock—Ragnit beträgt 320 Kilo- 
meter — die Nähe der russischen Aufnahmestellungen und 
das Zahlenmißverhältnis zur Teilung der Aufgabe. In dem 
doppelten Umfassungsangriff in Masuren vernichtet der 
Feldherr mit etwa gleichen Kräften restlos das russische 
Heer von 225 000 Mann, das in und hinter seiner eigenen, 
zu lange starr festgehaltenen Abwehrstellung völlig einge- 
kreist wird. 
Der gleiche Versuch an der ostpreußischen Südfront, 
mit bedeutend geringeren Kräften angestrebt, muß gegen- 
über den 400 o00 Russen, die die feindliche Heereoleitung 
dank ihrem Bahn= und Fesiungerückhalt rechtzeitig heran- 
bringt, aufgegeben werden. Aber selbst im Abwehrkampfe 
gelingt es dem General Gallwitz, dem willensstarken Unter- 
feldherrn Hindenburgs, seine Aufgabe, den Schutz Ostpreu- 
ßens, durch unermüdliches Ansichreißen der Offensive gegen 
eine schließlich geradezu überwältigende Ubermacht des An- 
greifers zu erfüllen und damit Vorbilder zu schaffen, an 
denen der Fachmann des kommenden Jahrhunderts für 
diese Art der Kriegführung lernen wird. 
Schon diese ersten acht Monate Hindenburgscher Feld- 
herrnbetätigung zeigen zur Genüge, daß kein Schema, Leit- 
motiv, Lieblingsgedanke oder wie man es sonst bezeichnen 
will, sondern lediglich der Wille, den Feind zu vernichten, 
den Feldherrn leitet. Für das Wo und Wie sorgt der un- 
erschöpfliche Geist mit seiner Lebens= und Facherfahrung 
von 80 Dienstjahren, sein treuer Gehilfe und Mitarbeiter, 
der ihm geistesgleiche Generalstabschef, seine nie versagen- 
den Unterfeldherrn und das ihm von seinem Kaiser anver- 
traute unvergleichliche Heer, äußerlich ein buntes Gemisch 
aller möglichen Augenblicksschöpfungen und Altersklassen, 
aber von einem Geist und Willen in Not und Tod be- 
herrscht, von dem Geiste Hindenburgs. 
Die endgültige Zertrümmerung des russischen Feldheeres 
(Skizze 48) 
In den ersten acht Kriegsmonaten war das gewaltige 
russische Feldheer, das sich bei Kriegsbeginn aus mehr als 
6½ Millionen gedienter Soldaten zusammengesetzt hatte, 
durch Hindenburgo Vernichtungsschläge und durch die un- 
sinnige Menschenvergeudung der Russen bei ihrem vergeb- 
lichen Ansturm gegen die deutschen und österreichisch- 
ungarischen Abwehrstellungen stark zusammengeschmolzen. 
Hans Niemann errechnet in seinem lesenswerten Buche „Die 
Befreiung Galiziens“ eher zu niedrig als zu hoch für 
das Russenheer bis Mitte April 1915 einen Abgang 
von 4,25 Millionen Menschen, nämlich an Gefangenen 
1 000 doo, an Toten 750 oo, an dauernd Untauglichen 
1 000 00, an fortlaufendem Abgang (Verwundeten und 
Kranken) 750 000, und schließlich sonstige Abgänge für 
Ausbildung des Ersatzes, Gefangenen= und Hilfodienst 
750 000 Menschen. 
Mitte April 1915 war das russische Feldheer an Nuß- 
lands Westgrenze noch etwa 3000 0o Mann stark, davon 
aber bereits 1 Ooo doo ungedbienter Nachersatz. Besonders 
fühlbar war jetzt schon der Offiziersmangel. Von den 7400 
anfänglich vorhandenen Geschützen waren rund 1700, von 
den s000 Maschinengewehren rund 1500 in Feindeshand 
gefallen. Hunderttausende von Gewehren und zahlreicheo 
Material waren verlorengegangen. Der Munitionsvorrat 
war bedenklich erschöpft, die von Amerika und Japan be- 
zogene Munition deckte höchstens den laufenden Verbrauch. 
Die Neuherstellung von Waffen und Material stieß in dem 
wenig organisierten Land auf unüberwindliche Schwierig- 
keiten. So wurde eine Vermehrung des russischen Feldheeres 
über den Rahmen von 3 Millionen Menschen fortab un- 
möglich. 
„Dagegen hatte allein Deutschland seit Kriegsbeginn, un- 
gerechnet den laufenden Ersatz der Verluste, ein neues ge- 
waltiges Heer von etwa 2 Millionen aus Freiwilligen, Er- 
satzreservisisen und Landstürmern auogebildet und trefflich 
ausgerüstet. Ungefähr die Hälfte dieses Neuheeres konnte 
im Laufe der nächsten Monate gegen Rußland eingesetzt 
werden. Rußlands Stärke, seine zahlenmästige Uberlegen- 
heit, begann mehr und mehr zu schwinden.“ (H. Niemann, 
a. o. O. Seite 25.)
	        
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