Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

lich die mit hochtönenden Worten angekündigten Einarmer- 
werkzeuge findiger Geschäftsleute), alles das stellt von 
vornherein den Erfolg in Frage. Die hierbei unausbleib- 
lichen Mißerfolge stimmen wiederum den Mut und die 
Auodauer der Kriegsbeschädigten herab. Und diese Eigen- 
schaften müssen stets in der Oberhand bleiben! 
Alo praktisch und erfolgreich hat es sich erwiesen, wenn 
von allem Anfang zur Feder, nicht zum Stift gegriffen 
wird. Aber nicht die spitzen Stahlfedern, denen wir, wie 
Fachgelehrte nachweisen, die Unschönheit der nationalen 
Schreibschrift verdanken, sondern solche mit breiten, weichen 
Schnäbeln (etwa die 3 mm breite Redisfeder) sind zu 
wählen. Und wie mancher der bejahrten Buchstabenschützen 
zunächst über das ungewohnte Schreibgerät stutzt, wundert 
er sich auch über die ersten Schreibformen: Steinschrift, 
Grotesk, nur aus der senkrechten, wagerechten und schrägen 
Linie, sowie dem einfachen linken und rechten Bogen zu- 
sammengesetzt! Die Fortsetzung der Ubungen läßt aber 
bald die Vorteile der Methode erkennen: die Hand wird 
frei, locker, die Schwerfälligkeit, das Ungelenke, Steife ver- 
liert sich. Durch die Ubungen mit der breiten Feder — 
auch zur lateinischen Kursioschrift wird sie anfangs noch 
benutzt —, wird der sichere Grund für die erstrebte Hand- 
schrift, deutsche Kurrent, gelegt. Und unbemerkt werden die 
Schreiber auf diesem Wege von der steilen Schriftlage zur 
rechtsgeneigten Schräglage geführt. Den Hauptanteil an 
der Bestimmung der Schriftlage hat die schreibende Hand, 
der schreibende Arm und der Lauf der Schrift von links 
nach rechts. 
Ebenso, wie dieser gesamte Unterricht kein plan= und 
geistloses Drauflosschreiben sein darf, ist es notwendig, 
daß das eigentliche Schreiben von technischen Ubungen 
aller Art, freien und gebundenen (ehythmischen) Arm-, 
Hand= und Fingerbewegungen begleitet wird. Überhaupt 
tritt die praktische Tätigkeit in den Werkstätten hier hel- 
fend und unterstützend ein. 
Außer dem Erlernen des Schreibens mit der linken 
Hand ist in vielen Fällen die Benutzung einer besonde- 
ren Schreibhilfe, einer Prothese geboten. Da die hier 
berührten Fälle ganz verschiedener Art sind, so müssen 
auch die Behelfsmittel ganz persönlicher Art sein. Es ist 
ein Unterschied, ob an einige Fingerstümpfe, an den Unter- 
arm oder Oberarm angeschlossen werden kann, ob der 
Schreibende die Hand auflegen kann oder nicht. Hier kön- 
nen die Erzeugnisse der Industrien, so gut gemeint und 
scharfsinnig ausgearbeitet sie auch sein mögen, ihren Zweck 
in der Regel nur dann erfüllen, wenn sie für den einzelnen 
Fall besonders umgearbeitet worden sind. Am besten ist 
es, wenn die Herstellung dieser Behelfsstücke, wie über- 
haupt aller Prothesen, in der Lazarettwerkstatt selbst ge- 
schieht. Dann bekommt der Kriegöbeschädigte nicht nur eine 
Arbeitshilfe, die lediglich für ihn gearbeitet, also gewisser- 
maßen ein Stück von ihm ist, sondern er lernt sie auch 
von Grund aus kennen, verstehen und schätzen. 
Das Schreiben ist aber nur ein Teil, wenn auch ein be- 
stimmender und wesentlicher, des Unterrichts der Einarmer= 
schulen. Nebenher werden noch viele Ubungen laufen, die 
dem Kriegsbeschädigten die unzähligen Behelfvarbei= 
ten ermöglichen, die das tägliche Leben erfordert. Der 
Einarmer lernt nicht nur das Schreiben, sondern auch den 
sonstigen Gebrauch der Schreibwerkzeuge und des dazu 
notwendigen Materialos. Wie man einen Brief öffnet, 
indem derselbe unter den Kunstarm oder den Armstumpf 
geklemmt wird, während die andere Hand den Umschlag 
aufreißt oder mit einem Messer aufschneidet, wie weiter 
der Brief seiner Hülle entnommen wird unter geschickter 
Benutzung des Körperg oder einer Tischkante, nach Befinden 
auch mit den Zähnen, wie ein Brief mit einer Hand unter 
geeigneter Verteilung der einzelnen Finger in den Umschlag 
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gesteckt, dieser geschlossen und gesiegelt wird, alles dies 
und noch viele Griffe muß der einarmige Schreiber lernen. 
Bei Besprechung der Bureauhilfsarbeiten wird noch dar- 
auf zurückzukommen sein. 
Bei den Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens 
benutzt der Einarmer mit Vorliebe Geräte, die wenig oder 
gar nicht von der üblichen Form abweichen, höchstens eine 
Sondervorrichtung besitzen. Die meisten der sog. Einarmer- 
hilfsgeräte sind mindestens überflüssig, oft sogar gefährlich, 
wie z. B. die Taschenmesser mit den durch Druck auf- 
springenden Klingen, die sich oft in der Tasche durch 
Reibung usw. außlösen und zu Verletzungen Anlaß geben. 
Im Handel erscheinen täglich neue derartige Geräte, die 
oft viel Scharfsinn verraten, da sie aber meistens nicht von 
Einarmern entworfen sind, entsprechen sie auch nicht deren 
Bedürfnissen. Der Einarmer zeigt sich vor allem, je nach 
der mit Energie betriebenen lbung, viel geschickter und er- 
findungsreicher als der Laie annimmt. Man braucht da 
noch gar nicht an Künstler und Schaubühne zu denken, 
die schon in Friedenszeiten angestaunt wurden. Wenn 
  
Kriegsbeschärigter, mit Handprothese schreibend 
Elnarmerschule des Krelsverbandes Heimatdank, Leipzig 
wir sehen, daß jemand ohne Arme und Beine einen Be- 
ruf ausüben kann, wie etwa der bekannte Königsberger 
Drechslermeister, oder wenn wir den bekannten Grafen 
Zichy mit der Linken meisterhaft Klavier spielen hören, so 
sind wir freudig überrascht, und wir wünschen, daß ein 
Abglanz dieser Höchstleistungen sich auf jeden Kriegs- 
beschädigten übertragen möchte. Und wenn dies auch nur 
einzelne, gottbegnadete Talente sind, deren Leistungen sich 
keineswegs verallgemeinern lassen, so sind schon in Frie- 
denöozeiten überraschende Leistungen vieler Industrie-Inva- 
liden bekannt geworden, die meistens einer besonderen, ihrem 
Zustand entsprechenden Schulung entbehrten. Es wird noch 
bei Besprechung der einzelnen Berufe auf die besonderen 
Verwendungsmöglichkeiten und Arbeitsbehelfe der Einarmer 
hingewiesen werden. Die Ergebnisse praktischer Arbeit 
bängen ungemein viel von der Schulung in den Lazaretten 
ab. Je planmäßiger die Einarmerschulen vorgehen, je 
bereitvoller die Kriegobeschädigten sich dieser Führung hin- 
geben, desto rascher und sicherer wird sich die Einübung der 
bisher nicht an die entsprechende Tätigkeit gewöhnten Glie- 
der vollziehen und der Ubergang in geregelte und lohnende 
Erwerbsarbeit vollziehen. 
Jedenfalls liefern die Einarmerschulen den Beweis, 
daß der Verlust eines Armes, bzw. einer Hand, einen 
Menschen keineswegs zur Hilflosigkeit verurteilt. Ja, er 
braucht noch nicht einmal auf manche Annehmlichkeit, 
manchen Genuß zu verzichten. Die Einarmerschulen pflegen 
aus diesem Grunde Turnen und Sport. Wir sehen mit
	        
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