Radowitz als Garderobier der Phantasie Friedrich Wilhelms IV. 65
mittelalterlichen Phantasie des Königs machte und dazu beitrug,
daß der König über historische Formfragen und reichsgeschichtliche
Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktischem Eingreifen in die
Entwicklung der Gegenwart versäumte. Das tempus utile für
Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatorisch mit neben-
sächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oestreich wieder stark genug
war, um Sachsen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, so
daß beide Mitbegründer dieses Dreibundes in Erfurt ausfielen.
Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von
Pfuel geladenen Gesellschaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger
Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der östreichischen Armee,
die sich in Böhmen sammelte und dem Parlament als Gegen-
gewicht und Correctiv dienen sollte. Es wurden verschiedene Zahlen,
80 000 und 130 000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit
lang ruhig zu und sagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck
unwiderleglicher Gewißheit auf seinen regelmäßigen Zügen in ent-
scheidendem Tone: „Oestreich hat in Böhmen 28 254 Mann und
7132 Pferde.“ Die Tausende, die er angab, sind mir obiter in
Erinnerung, die übrigen Ziffern setze ich nach Gutdünken hinzu,
nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals
anschaulich zu machen. Natürlich brachten diese Zahlen aus dem
Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußischen
Regirung einstweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen.
Wie stark die östreichische Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen
gewesen ist, wird heut wohl feststehn; daß sie zur Olmützer Zeit er-
heblich mehr als 100 000 Mann betrug, habe ich annehmen müssen
gerechnet, und hält sich so seiner Sache gewiß. 2) Der König hält seine
Minister und auch mich für Rindvieh, schon darum, weil jene mit ihm currente
und praktische Geschäfte abmachen müssen, welche nie seinen Ideen entsprechen.
Er traut sich nicht die Fähigkeit zu, diese Minister sich folgsam zu machen, auch
nicht die, andre zu finden, er giebt also diesen Weg auf und glaubt, in Radowitz
einen gefunden zu haben, von Deutschland aus Preußen zu restauriren, wie
das Radowitz in „Deutschland und Friedrich Wilhelm IV.“ geradezu eingesteht.“
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5