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Verurtheilung ergangen ist, welche den Verlust des Amts nicht zur Folge gehabt hat, derjenlgen Behörde, welche
über die Einleitung des Disziplinarverfahrens zu verfügen hat, die Entscheidung darüber vorbehalten, ob außer-
dem ein Disziplinarverfahren einzuleiten oder fortzusetzen sei. Dem entsprechend hat der Reichskanzler am
6. Juli 1873 die Eröffnung der Disziplinaruntersuchung auf Entlassung aus dem Amte gegen den Angeschul-
digten beschlossen, nachdem derselbe durch die rechtskräftigen Urtheile der zuständigen Strafgerichte wegen rechts-
widriger Zueignung eines mit 490 Thlrn. beschwerten Geldbriefs, welchen er in amtlicher Eigenschaft empfangen
und in seiner Gewahrsam gehabt, zu einer sechsmonatlichen Gefängnißstrafe verurtheilt worden.
Es erhebt sich nun die Frage: ob in diesem Disziplinarverfahren die erkennenden Dlsziplinarbehörden
zu einer nochmaligen selbständigen Prüfung bezüglich der von den Strafgerichten bejahten Schuld des An-
geschuldigten berufen und verpflichtet, oder ob sie an die die Schuldfrage betreffende Entscheidung gebunden
und nur darüber zusätzlich zu entscheiden berufen sind, ob die vom Strafrichter festgestellte That die fernere
Belassung des Angeschuldigten im Amte zulasse oder nicht. Für die erste Alternative läßt sich geltend machen,
daß das Reichsbeamten-Gesetz, während dasselbe im §. 78 al. 1 für den Fall eines freisprechenden straf-
gerichtlichen Urtheils wegen der in der gerichtlichen Untersuchung zur Erörterung gekommenen Thatsachen ein
Disziplinarverfahren nur noch insofern zuläßt, als dieselben an sich und ohne ihre Beziehung zu dem gesetz-
lichen Thatbestande der den Gegenstand der Untersuchung bildenden strafbaren Handlung ein Dienstvergehen
enthalten, also eine nochmalige Erörterung des gesetzlichen Thatbestandes des den Gegenstand der Kriminal-
Untersuchung bildenden Vergehens als solchen im Disziplinarverfahren ausschließt, für den Fall eines ver-
urtheilenden strafgerichtlichen Erkenntnisses eine ausdrückliche Bestimmung, daß die Disziplinarbehörde an
die die Schuldfrage betreffende Entscheidung des Strafrichters gebunden sei, nicht enthält, vielmehr im
S. 108. al. 1, ohne für den im §. 78 al. 2 vorgesehenen Fall ausdrücklich eine Ausnahme zu statuiren, die
Disziplinarbehörden ermächtigt, nach ihrer freien, durch positive Beweisregeln nicht beengten, aus dem Inbegriffe
der Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu beurtheilen, inwieweit die Anschuldigung für begründet
erachten sei. Allein überwiegende Gründe sprechen dafür, daß die zweite Alternative dem Willen des
Gesetzgebers entspricht. Es ist zunächst nicht zu verkennen, daß es zu den erheblichsten praktischen Unzuträglich-
keiten führen würde, wenn den Disziplinarbehörden gestattet wäre, die von den Kriminalgerichten bereits rechts-
kräftig beiahte Schuldfrage im entgegengesetzten Sinne zu entscheiden. Schon die Thatsache der durch den
Strafrichter erkannten Verurtheilung wegen eines gemeinen Vergehens für sich allein kann die Stellung eines
Beamten dergestalt kompromittiren, die Achtung desselben in so hohem Grade schädigen, daß die Belassung in
seinem Amte unthunlich erscheint. Für die verneinende Beantwortung der bestrittenen Frage, ob der Zivil,
richter an die Entscheidung des Strafrichters über die Schuldfrage gebunden sei, läßt sich die doppelte Rück-
sicht geltend machen, daß im Zivilprozesse ganz andere Interessen verfolgt werden und nach ganz anderen Be-
welsgrundsätzen entschieden wird, als im Strafprozesse. Sehr verschieden davon ist aber das Verhältniß des
Disziplinar-Verfahrens zu dem Kriminal-Verfahren; in beiden verfolgt dieselbe Staatsgewalt dieselben
öffentlichen Interessen; in beiden wird nach gleichen Beweisgrundsätzen entschieden. Es kann nicht die
Absicht des Gesetzgebers gewesen seln, daß der Angeschuldigte, gegen welchen die Thatfrage bereits im Kriminal-
Verfahren bejahend entschieden ist, der Staatsgewalt gegenüber im Disziplinarverfahren auf Verneinung der
Thatfrage antragen könne. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht auch die Entstehungsgeschichte des §. 78
al. 2 des Reichsbeamten-Gesetzes. Die Vorschriften der preußischen Disziplinargesetze haben den entsprechenden
Disziplinarvorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes im Wesentlichen zur Grundlage gedient. Der mit §. 78
al. 2 cit. wörtlich übereinstimmende §. 5 al. 2 des preußischen Disziplinargesetzes vom 21. Juli 1852 ist in
konstanter Praxis des preußischen Disziplinarhofs zu Berlin und des preußischen Staatsministeril so aufgefaßt
worden, daß die Disziplinarbehörde die als endgültig anzusehende Entscheidung des Strafrichters über die
Schuldfrage nicht einer nochmaligen selbständigen Erörterung unterziehen dürfe. Wenn nun in das Reichs-
gesetz, ohne einen jene ohne Zaeife bekannte Praxis reprobirenden Zusatz, wörtlich dieselbe Bestimmung,
welche das preußische Diszlplinargesetz enthält, übernommen ist, so liegt die Annahme nahe, daß die gedachte
Praxis stillschweigend habe gebilligt werden sollen. Dazu kommt, daß die im §. 77 des Reichsbeamten-Gesetzet
getroffenen Bestimmungen eine präjudizielle Bedeutung des Kriminalverfahrens für das Disziplinarverfahren
statuiren, daß §. 78 al. 1 die Konsequenzen dieser präjudiziellen Bedeutung für den Fall eines freisprechenden
Urtheils des Strafrichters ausdrücklich ausgesprochen hat und daß, wenngleich §. 78 al. 2 diese Konsequenzen
für den Fall einer verurtheilenden Entscheidung des Strafrichlers nicht mit gleicher Bestimmtheit gezogen
hat, doch das Wort „außerdem“ in dem Schlußsatze des §. 78 al. 2 nicht undeutlich darauf hinweist, daß der
Gesetzgeber nur die Verhängung einer zusätzlichen Strafe als den alleinigen Gegenstand und Zweck des dem
Kriminalverfahren nachfolgenden Disziplinarverfahrens angesehen hat. Der §. 108 al. 1 ist daher seiner