Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Fünfter Jahrgang. 1877. (5)

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täglich zu liquidiren und hat die Verurtheilung des Verklagten zur Zahlung der Differenz von 
102 Mark 80 Pf. in erster Instanz erwirkt. 
Auf die Berufung des Verklagten war es bei dieser Entscheidung nicht zu belassen, sondern 
Kläger mit dem erhobenen Anspruche abzuweisen. 
Die im Jahre 1865 zwischen dem Kläger und dem Landrathe des Kreises Wehlau in 
Vertretung des verklagten Landarmenverbandes geschlossene, von der Kreis-Armenkommission ge- 
nehmigte Uebereinkunft setzt allerdings, was Verklagter ohne Grund bestreitet, die Höhe der dem 
Kläger zukommenden Vergütung für Verpflegung und ärztliche Behandlung von kranken Land- 
armen des Kreises Wehlau (Kreisarmen) allgemein auf 10 Sgr. täglich fest, ohne zwischen 
Kranken, die dem Kläger zur Verpflegung seitens des Verklagten überwiesen werden, und 
Kranken, die Kläger selbst in Pflege nimmt, zu unterscheiden. 
Soweit sich das Uebereinkommen auf Verpflegungsfälle erstreckt, für welche der preußische 
Tarif vom 21. August 1871 die maßgebenden Normen der Vergütung ausstellt, kann jedoch 
dasselbe nicht anstatt des Tarifs der Entscheidung der Spruchbehörden in Armensachen zu Grunde 
gelegt werden, auch wenn es, was hier keiner Erörterung bedarf, trotz mangelnder formeller Zu- 
stimmung des Kreistages für den Verklagten verbindlich ist. 
Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz gewährt in §. 30 den einzelnen Bundes- 
staaten die Befugniß, die Vergütung für solche häufiger vorkommende Aufwendungen der Armen- 
pflege, deren täglicher oder wöchentlicher Betrag sich in Pauschquanten feststellen läßt, insbeson- 
dere für Verpflegung in Kranken= und Armenhäusern durch einen öffentlich bekannt zu machenden 
Tarif festzusetzen, dessen Sätze die Erstattungsforderung nicht übersteigen darf. Von dieser Be- 
fugniß hat Preußen Gebrauch gemacht, und nach Maßgabe des Landesgesetzes vom 8. März 1871 
§. 35 einen den Ersatz zwischen preußischen Armenverbänden normirenden Tarif erlassen (Bekannt- 
machung vom 21. August 1871), welcher Bestandtheil des preußischen Armenrechts geworden ist. 
Das Armenrecht als öffentliches Recht ist an sich der Abänderung durch Vereinbarung der ein- 
zelnen Armenverbände entzogen. Derartige besondere Vereinbarungen haben überall keinen An- 
spruch auf Berücksichtigung, es müßte denn das Gesetz selbst oder ein unter gesetzlicher Sanktion 
erlassenes Normativ der Bethätigung des freien Willens der betheiligten Armenverbände ausdrück- 
lich Raum gewähren. In solchem Falle bewegt sich die Vertragsschließung im Rahmen des Ge- 
setzes, ist also zulässig. Ein Beispiel hierfür giebt §. 55 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870, 
wonach der gesetzlich zur Uebernahme eines Hülfsbedürftigen verpflichtete Armenverband dessen 
Verbleiben am Aufenthaltsorte mit dem unterstützenden Verbande verabreden und zur Erfüllung 
der vertragsmäßig übernommenen Verbindlichkeit sogar im Wege administrativer Exekution ange- 
halten werden kann. Dagegen sind Verträge, welche abmeichend von den gesetzlichen Erforder- 
nissen die Entstehung oder das Erlöschen des Hülfsdomizils generell oder für den einzelnen Fall 
regeln, als von der Gesetzgebung nicht zugelassen, für das Armenrecht absolut bedeutungslos. 
Aus dem gleichen Grunde, weil nämlich der einen Bestandtheil des Armenrechts bildende Tarif 
vom 21. August 1871 den preußischen Armenverbänden die Befugniß, anderweitige resp. höhere 
Vergütungssätze zu vereinbaren, nicht ertheilt, können vertragsmäßige Festsetzungen gegenüber den 
surdimmungen des Tarifs in der Judikatur der Spruchbehörden für Armensachen keine Beachtung 
nden. 
Daß der Dienstknecht T. im Bezirke des klagenden Armenverbandes hülfsbedürftig geworden 
und der vorläufigen Fürsorge des Klägers anheimgefallen ist, darf nach Lage der Verhandlungen 
als feststehend angenommen werden. Da es sich hiernach um Festsetzung der dem Kläger als 
vorläufig unterstützenden Armenverband zukommenden Vergütung handelt, so muß unbedingt der 
Tarif mit Ausschluß der angezogenen Uebereinkunft zur Anwendung kommen. Das ist, wie von 
den Parteien, so auch vom ersten Richter übersehen. 
Die im Verwaltungswege erkannte Abweisung des Klaganspruches hindert übrigens den 
Kläger nicht, den Rechtsweg zu betreten, falls er aus der geschlossenen Uebereinkunft einen 
privatrechtlichen, vor dem ordentlichen Richter verfolgbaren Anspruch geltend machen zu können 
glaubt. 
  
  
  
  
  
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