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Art. 70.
Unterlassene Verhinderung eines bevorstehenden Verbrechens.
Wer von dem Vorhaben eines Verbrechens unter Umständen Nachricht erhält, wo er diese
Nachricht für wahr halten mußte, ist schuldig, unverzüglich die geeigneten Schritte zu thun,
um die Ausführung des Verbrechens, je nach Verschiedenheit der Fälle, durch Anzeige bei der
Obrigkeit oder einem der nächsten Aufsichtsbeamten, oder durch Benachrichtigung des Be-
drohten, oder auf jede andere gesetzlich statthafte Weise zu verhindern, dafern nicht die Ver-
hinderung mit Gefahr für ihn selbst oder seine Angehörigen verbunden ist.
Die Verletzung dieser Pflicht zieht, wenn es sich um das Verbrechen des Hochverraths,
des Kriegsverraths (Militärstrafgesetzbuch § 87), des Staatsverraths, des Aufruhrs, des
Mordes, der Körperverletzung unter den Art. 169 angegebenen Verhältnissen, des Raubes,
der Nothzucht, des Diebstahls mit Waffen, der Brandstiftung, oder des Falschmünzens han-
delt, Gefängniß= oder Arbeitshausstrafe bis zu vier Jahren nach sich. Ist bei Unterlassung
der Verhinderung nicht zugleich ein eigener Vortheil beabsichtigt oder eine Amtspflicht verletzt
worden, so kann in Fällen, wo keine höhere Strafe als sechs Monate Gefängniß als an-
gemessen erscheint, statt der Gefängnißstrafe auf Geldstrafe bis zu sechshundert Thalern er-
kannt werden.
Bei anderen Verbrechen soll die Unterlassung der Verhinderung dann, und zwar mit Ge-
fängniß bis zu einem Jahre bestraft werden, wenn dieselbe wegen eines eigenen mittelbaren
oder unmittelbaren Vortheils dabei, oder mit Verletzung einer Amtspflicht geschehen ist, und
das Verbrechen, um dessen Nichtverhinderung es sich handelt, zu den von amtswegen zu be-
strafenden gehört.
Art. 71.
Unterlassene Anzeige begangener Verbrechen.
Die unterlassene Anzeige bereits verübter Verbrechen wird mit Gefängniß oder Arbeits-
haus bis zu zwei Jahren bestraft, wenn Derjenige, welcher sie unterlassen hat, wußte, daß statt
des ihm bekannten Thäters ein Unschuldiger deshalb sich in Untersuchung befinde, oder Strafe
verbüße.
Art. 72.
Ausnahme.
Die nicht zum Voraus verfprochene Begünstigung eines Verbrechens (Art. 61 erster
Absatz) und die Unterlassung der in Art. 70 und 71 vorgeschriebenen Anzeigen und Be-
nachrichtigungen ist straflos zu lassen, wenn sie aus Rücksicht auf verwandtschaftliche, schwäger-
schaftliche, oder nahe häusliche Verhältnisse, und weder um eigenen Vortheils willen, noch aus
eigenem Interesse an der That stattgefunden hat.
Diese Bestimmung leidet auf Diejenigen, welche amtshalber zur Verhütung oder Anzeige
von Verbrechen verpflichtet sind, nicht Anwendung.
1868. 124