Fraktionssitzung der Konservativen, in der die endgültige Stel—
lung zum russischen Handelsvertrag festgelegt wurde, von Red—
nern der extremsten Richtung Außerungen gefallen waren, daß
man es zur wiederholten Auflösung des Reichstags treiben müßte
und ohne Anderung des Wahlrechts nicht auskommen könnte. Eine
ähnliche Stimmung war auch in nationalliberalen Kreisen vor-
handen und unter anderem in einem Artikel der Kölnischen Zei-
tung vom 13. August zum Ausdruck gekommen, der sozialdemo-
kratische, antisemitische und ultramontane Hetzereien in einen Topf
zusammenwarf und das gleiche Wahlrecht dafür verantwortlich
machte, daß der Reichstag in Wirklichkeit mehr die Krankheits-
erscheinungen als die Kraft und Intelligenz der Nation abspiegelte.
Noch im Sommer 1805 sprach es das „Volk“, das Organ Stöckers,
der es wissen konnte, ganz offen aus, daß es sich beim Sturze
Caprivis vornehmlich um die Einleitung „einer größeren Aktion“
gehandelt hätte, „die uns aus den parlamentarischen Wirren“ füh-
ren sollte.
Während der folgenden Wochen bildete sich in den Beratun-
gen des preußischen Staatsministeriums allmählich ein kaum über-
brückbarer Gegensatz zwischen den Ansichten des Kanzlers und
denen des preußischen Ministerpräsidenten heraus. Im Auftrage
des Kanzlers hatte der Staatssekretär des Reichsjustizamts Nieberding
einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der in wenigen Artikeln eine
Verschärfung des Strafrechts enthielt. Auch wurden neue ein-
schränkende Vorschriften über die Vereins= und Versammlungs-
freiheit als preußische Angelegenheit erwogen. Die erste Sitzung
des Staatsministeriums am 12. Oktober verlief besser, als man
erwarten konnte. Der Kanzler bestand zunächst auf einer Ent-
scheidung der Frage, ob die Minister bereit wären, es auf einen
schweren Konflikt mit dem Reichstag ankommen zu lassen. Wäh-
rend Graf Botho zu Eulenburg dies als eine cura posterior
behandelt zu sehen wünschte, sprach sich Dr. v. Miquel dafür aus,
daß nur maßvolle Entschlüsse, die nicht die Gefahr eines Staats-
streichs enthielten, gefaßt würden. Außer den beiden Staatssekre-
tären v. Bötticher und Frhr. v. Marschall traten auch der seiner-
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