eine neue Grundlage zur Beseitigung des allgemeinen gleichen Wahl-
rechts herzustellen, ein Gedanke, der gelegentlich und akademisch
auch dem Fürsten Bismarck durch den Kopf gegangen war. Aber
eben noch bei seiner achtzigjährigen Geburtstagsfeier hatte der Alt-
reichskanzler die Studenten und die Hamburger ermahnt, zu halten,
was wir mühsam unter dem Gewehranschlag der übrigen Europäer
ins trockene gebracht haben, und nicht zu glauben, daß sich die
tiefgehenden, gleichsam geologischen Spaltungen im deutschen Boden
mit einem Schlage vertilgen ließen. Eine andere Anregung ging
vom Grafen Mirbach, der als Vorsitzender des Vereins der Steuer-
und Wirtschaftsreformer die vornehme Richtung des Agrariertums
vertrat, im preußischen Herrenhause aus. Er sagte, weite Kreise
würden es mit Jubel begrüßen, wenn auf Grund einer Anderung
des Wahlrechts ein neuer Reichstag berufen würde. Damit wollte
er jedoch nach einer späteren Erläuterung keinen Staatsstreich im
Auge gehabt haben, sondern nur Vorschläge, die sich darauf rich-
teten, die Wahlpflicht einzuführen, die Altersgrenze hinaufzusetzen
und die geheime Wahl zu beseitigen. Aber das durchzusetzen, wäre
eben ohne Konflikt nicht möglich gewesen.
In seiner Jenaer Rede vom 30. Juli 1892 hatte Fürst Bis-
marck gesagt, er möchte dazu beitragen, daß sich das Parlament
wieder zu einer konstanten Majorität und Autorität erhebe, er selbst
habe unbewußt dazu beigetragen, daß der Reichstag in seinem
Einfluß heruntergekommen sei. In derselben Rede nannte er es
ein gefährliches Experiment, wenn man im Zentrum Europas ab-
solutistischen Ideen und Velleitäten zustrebe. Er wollte also ein
Parlament mit eigenem politischen Willen haben, der sich gegen
absolutistische Neigungen richte. Und gleichzeitig sollte die demo-
kratischste Partei mit absolutistischen Mitteln unterdrückt werden?
Kampf nach oben gegen Kaiser, Hof und Heer und nach unten
gegen eine von der Idee der Völkerverbrüderung beherrschte Masse
von Proletariern, Kleinbürgern und Literaten — das ging über
die Kraft eines Parlaments, in dem das Bürger= und Junkertum,
zersplittert in ein Dutzend von Fraktionen, Gruppen und Grüpp-
chen, der geeinigten Sozialdemokratie gegenüberstand.
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