In der politischen Literatur aber bildet der Verzicht auf den
Rückversicherungsvertrag heute noch ein Hauptstück kritischer Be—
trachtung der Caprivi-Zeit. Bei den Historikern und ernsten Publi-
zisten überwiegt durchaus die Ansicht, daß der Verzicht ein schwerer
Fehler gewesen sei, und daß ohne ihn vielleicht die verhängnisvolle,
schließlich den Weltkrieg herbeiführende Teilung Europas in zwei
Mächtegruppen nicht zustandegekommen wäre. Eine Ausnahme macht
Hans Delbrück, der sich schon kurz nach der Enthüllung der Ham-
burger Nachrichten skeptisch über den Wert der russischen Rücken-
deckung und über die Nützlichkeit ihrer posthumen Veröffentlichung
äußerte (Preuß. Jahrb. Bd. 86, Oktober bis Dezember 1800).
Der entgegengesetzte Standpunkt, daß der Verzicht ein folgen-
schwerer Fehler war, wird am ausführlichsten vom Grafen Ernst
zu Reventlow in seinem Buche: Deutschlands auswärtige Yolitik
1888—1914 vertreten. Sein urteil ist ohne Voreingenommenheit
gegen die Person Caprivis, sachlich abwägend, wie überhaupt in
dem Werke, namentlich in den Teilen, die sich mit älteren Streit-
fragen und abgeschlossenen Perioden befassen, der kampflustige
Tagesschriftsteller hinter den historischen Forscher zurücktritt.
Die einzige Quelle für den Inhalt des Vertrages ist heute
noch der Artikel der Hamburger Nachrichten vom 24. Oktober 1806.
Danach hätten sich beide Reiche gegenseitig zu wohlwollender Neu-
tralität für den Fall verpflichtet, daß eines von ihnen von dritter
Seite angegriffen würde. Wenn also z. B. Frankreich einen An-
griffskrieg gegen Deutschland unternähme, so wäre die wohl-
wollende Neutralität Rußlands zu gewärtigen gewesen und um-
gekehrt die Deutschlands, wenn Rußland einen unprovozierten An-
griff abzuwehren hätte. Der Artikel der Hamburger Nachrichten
brachte dann mit dem Verzicht auf die gegenseitige Assekuranz die
polonisierende Ara in der Wilhelmstraße, die nur russenfeindlich ge-
meint sein könnte, in Zusammenhang und schloß mit dem Satz:
„So entstand Kronstadt mit der Marseillaise und die erste An-
näherung zwischen dem absoluten Zarentum und der französischen
Republik, unserer Ansicht nach ausschließlich durch die Mißgriffe
der Caprivischen Politik herbeigeführt.“
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