hielt. Nachdem die Annahme widerlegt war, daß wir nur 45 000
taugliche Rekruten mehr zur Verführung hätten, zeigte sich die
Partei zu weiterem Entgegenkommen bereit. Beim Zentrum war
von Anfang an eine kleine Minderheit unter Führung des Frei-
herrn von Huene geneigt, die Grundlagen des Entwurfs zu billi-
gen. Die große Mehrheit dagegen unter Führung des Dr. Lieber
wollte bei der gegenwärtigen Friedensstärke bleiben und nur
25—27 000 neue Rekruten zum Ersatz des dritten Jahrgangs bei
den Fußtruppen bewilligen, und zwar ohne jede neue Organi-
sation zur Verbesserung der Mobilmachung und zur Verjüngung
der Feldarmee. Dr. Lieber hatte in seinem Wahlkreise das unglück-
liche Wort gesprochen: Mögen die Forderungen der Regierung
auch berechtigt sein, das Bestehen einer Partei wie des Jentrums
ist doch noch wichtiger. Ebenso unglücklich hatte die freisinnige
Partei unter Eugen Richter als Prinzip aufgestellt: „Keinen Mann
über die gegenwärtige Friedensstärke.“ Daraus ergab sich, da doch
der unbequeme Programmpunkt: „volle Durchführung der allge-
meinen Dienstpflicht“ nicht abgeleugnet werden konnte, die sonder-
bare Erscheinung: Wo Gründe fehlten, da marschierten Grundsätze
auf, und wo ein Grundsatz war, da wurde er preisgegeben. Im
Februar hatte Caprivi zu mir gesagt: „Die Freisinnigen könnten
jetzt zeigen, daß sie regierungsfähig sind. Wahrscheinlich werden
sie es nicht tun. Das System des halben Parlamentarismus hat
den Nachteil, daß Führer wie Richter immer nein sagen können,
ohne die Gefahr zu laufen, sich in kurzer Zeit als Regierung ab-
zuwirtschaften.“ Von den Sozialdemokraten endlich war keine Un-
terstützung zu erwarten. Bebel hatte zwar die politischen Zukunfts-
gefahren bei der ersten Lesung nicht bestritten, im Gegenteil so-
gar von dem künftigen Weltkrieg gesprochen, wollte aber die Durch-
führung der allgemeinen Wehrpflicht nur in der Form des Miliz-
heeres.
Bei Beginn der dritten Lesung im Plenum zeigte sich noch
eine Möglichkeit, mit der Reform ohne Konflikt mit dem Reichs-
tag über den Berg zu kommen. Der Antrag Huene wollte die
Erhöhung der Friedensstärke auf 730 300 Gemeine statt 70 000
50