sich Lücken in der Rückerinnerung und in der Stetigkeit des Cha-
rakters.“
Diese Betrachtungen sind von einem stillen gedankenreichen
Mann verfaßt, mit dem ich mich im Laufe der Jahre häufig über
das Kaiserthema unterhalten habe. Mancher Leser wird sich schon
durch die eigene Art, wie er seine Gedanken vorträgt, angeregt füh-
len, ihrem Inhalt, fortschreitend vom Allgemeinen ins Besondere,
weiter nachzugehen. Andere mögen, noch mitten in den fürchter-
lichen Nachwehen beim Zusammenbruch einer äußerlich glänzenden
dreißigjährigen Regierung nach stärkeren Worten und strengerem
Urteil Verlangen tragen. Aber schon in der erwähnten Gewohnheit
unseres Volkes, den Kaiser noch bis nahe an sein fünfzigstes Jahr den
jungen zu nennen, liegt, wie mir scheint, mehr geahnt, als klar er-
kannt, eine verborgene Wahrheit, die uns den Grundfehler oder besser
vielleicht das Grundleiden Wilhelms II. richtiger kennzeichnet als
verdammende Rede.
Von Anfang seiner Regierung an trat Wilhelm II. als Heil-
bringer für das deutsche Volk auf, tief durchdrungen davon, daß er
es einer herrlichen Zukunft entgegenführen werde. Nicht einmal die
bitteren Erfahrungen in den Novembertagen 1g9os vermochten dem
Geist des nunmehr Fünfzigjährigen eine andere Richtung zu geben,
in seinem Charakter Selbstbescheidung und wahre Demut zu wecken.
Mit anderen Worten: Er hat weder in seiner geistigen noch in seiner
Willensbildung eine Entwicklung gehabt, er ist stehengeblieben, immer
der junge, Sermper iccem in dem Sinne, daß er aus keiner Beob-
achtung, keinem Mißgriff, keinem Fehlschlag eine Lehre für seinen
Herrscherberuf gezogen hat. Geistige Regsamkeit, leichtes und ge-
wandtes Eingehen auf jedes Gespräch, sicheres Gedächtnis für Ein-
drücke, die wohlgefällig waren, alles Fähigkeiten, die ihn schon in jun-
gen Jahren zierten. Zum Lernen gab es für ihn keine Zeit. Erfah-
rungswesen galt ihm wie dem Baccalaurus im zweiten Teil des
Faust als „Schaum und Dunst“ und wie dieser konnte auch er sagen:
„Ich aber frei, wie mirs im Geiste spricht, Verfolge froh mein
innerliches Licht.“
Diese Erscheinung wird verständlicher, wenn man zunächst die
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