Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2.) 77
keine Vorstellung. Wenn ich glaube, daß das Vaterland mit seiner Politik
vor einem Sumpfe steht, der besser vermieden wird, und ich kenne den
Sumpf, und die anderen irren sich über die Beschaffenheit des Terrains,
so ist es Verrat, wenn ich schweige. Was sollte ich für andere Zwecke
haben, als dem Lande zu dienen? Ehrgeizige etwa? Das wäre doch thöricht
anzunehmen. Was sollte ich denn werden? Mein Avancement ist ab—
geschlossen. Ich hatte das Bedürfnis, den Sinn, in welchem ich Ihr Mandat
annehme, darzulegen. In meiner ersten telegraphischen Antwort auf Ihren
Mandatsantrag lehnte ich ab, weil ich zur Zeit nicht nach Berlin gehen
könne. Daraufhin darf ich annehmen, daß der Wahlkreis, wenn er meine
Kandidatur dennoch aufrecht erhalten und durchgeführt hat, mir für die
Dauer dieser Reichstagssession Urlaub gibt für den Fall, daß nicht noch
etwas Neues von Wichtigkeit vorgelegt wird.
Ich danke Ihnen nochmals für die Auszeichnung, welche Sie mir
in der Vertretung Ihres für mich seit lange historisch interessanten Wahl-
kreises erzeigt haben. Wie die Dithmarsen, so haben auch Sie von Alters
her die Verfassung freier Bauernschaften gehabt, und was beiden Stämmen
die besonderen Sympathien jedes Deutschen gewonnen hat, das ist ihre
Tapferkeit. Die Stedinger haben im Kampfe kein Glück gehabt, sie sind
vom Bischof von Bremen im damaligen Kreuzzug arg in die Pfanne ge-
hauen worden, aber nach was für einem heldenmütigen Widerstande, nach
einem Kampfe von Mann und Weib.
Hier bemerkt Fürst Bismarck, daß die Unterhaltung sich besser bei
dem Frühstück fortsetzen lasse, zu welchem er die Deputation einlädt.
2. Mai. (Abgeordnetenhaus.) Bei dem Etat der An-
siedlungskommission antwortet der Reichskanzler v. Caprivi auf eine
Provokation des Abgeordneten v. Jazdzewski mit folgender Rede:
Der Herr Abgeordnete hat vorhergesehen und wiederholt geäußert,
daß ein Teil seiner Behauptungen bestritten werden würde. Ich bin im
Namen der Staatsregierung in der Lage, hiervon Gebrauch zu machen und
zunächst zu widerstreiten der Behauptung, daß die Staatsregierung gewillt
sei, durch die Benutzung des Ansiedlungsgesetzes die Provinz Posen zu evan-
gelisieren. (Sehr richtig!) Der Herr Abgeordnete ist den Beweis dafür schuldig
geblieben. Seine Behauptungen entbehren nach Ansicht der Staatsregierung
der thatsächlichen Begründung.
Er hat dann weiter an die Regierung die Frage gerichtet, ob sie ge-
willt sei, das jetzige Gesetz zu verändern. Ich muß diese Frage verneinen.
Die Staatsregierung ist nicht gewillt, das jetzige Gesetz zu verändern. (Bravol)
Der Abgeordnete motiviert seinen Wunsch damit zunächst, daß das
Gesetz nicht gewirkt habe, weder wirtschaftlich noch politisch. Die Staats-
regierung kann diese seine Ansicht nicht teilen, aber selbst wenn sie sie teilte,
würde sie nicht geneigt sein, zur Aufhebung des Gesetzes Schritte zu thun.
Denn daß ein Gesetz der Art in fünf Jahren keine Erfolge haben kann, die
offen zu Tage liegen, die sich jedermann fühlbar machen, das ist an sich nichts
Ueberraschendes. Die Staatsregierung hat die Folgen dieses Gesetzes wahr-
genommen und erwartet, daß, wenn das Gesetz länger in Gültigkeit bleibt,
diese Folgen sichtbarer werden werden.
Der Herr Abgeordnete sagt dann weiter: „Die Staatsregierung will
die Polen los werden.“ Auch diese seine Behauptung muß ich bestreiten.
Wir wollen die Polen nicht los werden, wir wollen mit ihnen gemeinsam
leben; aber wir wollen unter denjenigen Bedingungen mit ihnen gemeinsam
leben, die das Wohl und die Erhaltung des preußischen Staates fordert.