320 Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit.
ordentlichen Richter). Und im 18. Jahrhundert wurde dieser Grundsatz nur noch schärfer und
folgerichtiger ausgeprägt. Besonders in Preussen, wo nicht nur bei Konflikten der Einzelnen mit
den Organen’der öffentlichen Verwaltung, sondern überhaupt in allen Streitsachen, „welche den
statum oeconomicum et politicum angehen oder überhaupt in das interesse publicum einschlagen“
(Ressort-Reglement Friedrichs II. v. 19. Juni 1749), also bei jedem Zusammenstoss von öffentlichem
und Privatinteresse der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen war. Nur, wer sich mit Privatpersonen
über Privatrechte streiten wollte, konnte die Justiz anrufen; wer sich durch die Tätigkeit der
landesherrlichen Verwaltungsbehörden verletzt fühlte, konnte es nicht. Er konnte lediglich Be-
schwerde einlegen. Dieser Beschwerdeweg war gewiss, vom Standpunkte des sein Interesse ver-
folgenden Beschwerdeführers (Rechte hatte er ja, bei dem allgemeinen Mangel gesetzlicher
Bindung der Verwaltungsorgane, der Verwaltung gegenüber niemals) aus gesehen, mangelhaft. Über
die Beschwerde wird im schriftlichen und geheimen Verfahren auf Grund der Akten entschieden
durch eine höhere Behörde, welche der Unabhängigkeit entbehrte. Aber die gleichen oder doch
ähnliche Mängel hafteten auch der damaligen Verfassung und dem Verfahren der ordentlichen
Gerichte, dem dem Beschwerdeführer verschlossenen Rechtsweg an. Auch hier gab es nur ein
geheimes, schriftliches Aktenverfahren. In den kleineren deutschen Ländern war es meist eine und
dieselbe Behörde, welche die Funktionen eines obersten Gerichts und eines obersten Verwaltungs-
organs wahrnahm; und wo, wie in Preussen, die oberste Verwaltungsbehörde (z. B. das General-
direktorium) schon im 18. Jahrhundert von dem obersten Gerichtshof getrennt gewesen ist, war
sie ebenso wie ein solcher Gerichtshof, nämlich kollegialisch, organisiert und der oberste Gerichtshof
war ebensowenig unabhängig wie die oberste Verwaltungsbehörde. So fehlte es an den Voraus-
setzungen, um den Ausschluss des Rechtswegs in Verwaltungsstreitsachen als besonderen Nachteil
empfinden zu lassen.
Im 19. Jahrhundert haben sich diese Verhältnisse völlig geändert. Die jetzt einsetzende
Modernisierung der Justiz-, wie der Verwaltungseinrichtungen schafft Verschiedenheiten zwischen
Rechts- und Verwaltungsbeschwerdeweg, welche den ersteren in den Augen des Rechtsuchenden
als das Bessere, den anderen als das sehr viel Schlechtere erscheinen liessen. Justiz und Verwaltung,
nun erst scharf von einander getrennt, entwickeln sich selbständig, sozusagen nach entgegengesetzten
Richtungen. Die Justiz schlägt eine ausgeprägt individualistische, auf möglichst vollkommenen
Schutz von Einzelrecht und Einzelinteresse bedachte Richtung ein. Die Gerichte werden unab-
hängig von jedem Regierungs- und Verwaltungseinfluss, ihre Organisation wird stetig verbessert,
ebenso ihr Verfahren: Regelung des Instanzenzugs und der Rechtsmittel, Mündlichkeit und Öffent-
lichkeit der Verhandlung, Anklageprozess, Schwurgerichte. Alle diese und andere Garantien der
Gesetzmässigkeit und Sachlichkeit der Streitentscheidung fehlten dem Verwaltungsbeschwerdewege,
welcher unter diesem Gesichtspunkte nicht sowohl schlechter war wie der moderne Rechtsweg, als
auch schlechter wie der Verwaltungsweg in älteren Zeiten. Eine Verschlechterung im letzteren
Sinn war vor allem dadurch eingetreten, dass zu Anfang des 19. Jahrh. die kollegiale Einrichtung
der obersten Verwaltungsinstanzen durch die büromässige, m. a. W. durch das System der Ministerien
ersetzt wurde, womit eine sehr wesentliche Garantie unparteiischer und gerechter Verwaltungs-
entscheidungen verschwand, während andererseits die Abhängigkeit der unteren Verwaltungsorgane
von den Ministern stetig verschärft, die Energie und Intensität der gesamten Verwaltungstätigkeit,
ohne sonderliche Rücksichtnahme auf die Interessen der Einzelnen, gesteigert wurde.
Auch durch den Übergang der deutschen Staaten (Bayern, Baden, Württemberg, Hessen
1818—1820, Sachsen 1831, Preussen 1848) zur konstitutionellen Verfassungsform ist eine Besserung
des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Individuum zunächst tatsächlich nicht bewirkt worden.
Wohl bringen die konstitutionellen Verfassungen dieses Verhältnis in eine rechtliche Ordnung, sie setzen
an Stelle des „Polizeistaats“, der Verwaltung nur nach Z ässigkeitsrücksichten, den „Rechts-
staat‘‘: die Verwaltung auf Grund und innerhalb der Schranken der Gesetze. Doch hatte das zunächst
mehr theoretische als praktische Bedeutung. Der Rechtsstaat war proklamiert, aber der Polizeistaat
dauerte fort. Er dauerte fort, weil man es versäumt hatte, wirksame Schutzeinrichtungen zu
treffen, welche dem Prinzip der gesetzmässigen Verwaltung im Streitfalle Achtung verschafften.
Diese Unterlassung erklärt sich daraus, dass man eine ausreichende Bürgschaft für die Gesetz-