Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege. 333
83. Zwei verschiedene Grundformen des Aufbaus einer Gerichtsverfassung sind denkbar und
stehen, heute noch, jede mit ihren offenen Nachteilen behaftet, in Geltung. Die eine Form hat für
die wichtigen, neue Rechtsfragen aufwerfenden Zivilprozesse ein hauptstädtisches Zentralgericht
(Hochgericht) erster Instanz und daneben für die geringeren Sachen, ursprünglich nur für Bagatell-
sachen und Sonderprozesse, Lokalgerichte erster Instanz durch das ganze Land. Über beiden Ge-
richtsarten der ersten Instanz baut sich ein Rechtsmittelsystem auf, das in England über dem Hoch-
gericht noch zwei Instanzen (Court of Appeal und Oberhaus-Gericht) kennt, jedoch mit einer durch
Herkommen, Schwierigkeiten und Kosten des Rechtsmittelverfahrens und überwiegende Abweisung
dereingelegten Rechtsmittel,ä tniedriggehal Zabl der Appellationen undOber-Appellationen
rechnet (Vgl. mein Englisches Richtertum im Court of Criminal Appeal, 1909, S. 35 fgde, 41).
Da überall in der neueren Zeit die Kompetenz der Untergerichte sich auf Kosten der höheren er-
weitert und dadurch die Autorität der hochgerichtlichen Entscheidungen, selbst bei striktem Prä-
judiziensystem geschwächt wird, so ist diese erste Form der Gerichtsverfassung gefährdet und
braucht da, wo sie sich halten will, die Stütze konservativer Staatsgesinnung und das Gewicht alter
Gewohnheit.
Die andere Form der Gerichtsverfassung verstreut die Gerichte der ersten Instanz über das
ganze Land, grenzt ihre sachliche Zuständigkeit nach höheren und niedern, personenrechtlichen und
vermögensrechtlichen, wichtigen und Bagatell-Sachen (wohl auch nach dem mehr oder weniger auf
schleunige Entscheidung drängenden Rechtsschutzbedürfnis) unter einander ab, koordiniertaberdann
wieder die höheren und niederen Gerichte der ersten Instanz (Amts- und Landgerichte) in der Wir-
kung der Prozessführung und der gerichtlichen Entscheidung, die in allen Fällen gleich stark ist
(dabei ist nur zu bemerken, dass die den ordentlichen Gerichten der untersten Ordnung gleichsteben-
den Kaufmannsgerichte in geringwertigen Sachen die stärkste Jurisdiktion besitzen, die das deutsche
System überhaupt kennt, da sie inappellabel urteilen). Über den Gerichten der ersten Instanz baut
sich auch hier das Rechtsmittelsystem auf, jedoch so, dass die Einlegung des Rechtsmittels gegen
das erste Urteil von den Prozessordnungen in jeder Weise erleichtert wird, die höhere Instanz durch-
aus selbständig und unter mehr oder weniger beschränktem Novenrecht der Parteien den Fall prüft
(ohne irgendwelche Stimmung in favorem der Unterentscheidung) und insbesondere nach deutschem
Prozessrecht auch der Vorteil der vorläufigen Vollstreckung des erstinstanzlichen Urteils durch die
Schadensersatzpflicht des Gläubigers aus $ 717 Abs. 2 Z.P.O. herabgemindert ist. Auch der höchste
Gerichtshof, dem bei dieser Form der Gerichtsverfassung vollends keine unmittelbare, erstinstanz-
liche Jurisdiktion zukommt, hat noch eine äusserst breite Zuständigkeit, die durch künstliche Be-
schränkungen des zu ihm führenden Rechtsmittels in den Grenzen der Leistungsfähigkeit seiner
Mitglieder gehalten werden muss. Hier ist der wunde Punkt dieses Systems. Ein Gerichtshof, der
nur in den seltensten Fällen — fast nur praeter legem — dazu kommt, den eigentlichen Richterberuf
des Urteilens über subjektives Recht und Unrecht zu üben, dafür aber tagaus, tagein die Rechtsan-
wendung der mittleren Gerichte auf schon in der untersten Instanz festgelegte Tatbestände nachzu-
prüfen hat, ist in steter Gefahr zum Gegenstück des berüchtigten Wiener Hofkriegsrats zu werden,
der vom grünen Tisch aus den im Feld stehenden Generalen und Truppenführern ihreMarschlinie vor-
schreibt.
4. Eine freiere Gestaltung desRechtsmittelwesens, dieauch dem höchsten Gericht neben seiner
Revisions- oder Kassations-Aufgabe einen Anteil an der unmittelbaren Rechtsprechung geben könnte,
ist freilich nur in der Art zu denken, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels
weithin in das Ermessen der Urteilsgerichte gestellt wird. Ein kleiner Ansatz in dieser Richtung
findet sich in der Z.P.O. neuester Fassung im $ 708 Ziffer 7 cf 717 Abs. 3. für die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit. Die volle Entwicklung ist aber davon abhängig, dass die Vorstellung
eines Rechts der Partei auf das Rechtsmittel wenigstens für dieRevision oder Ober-Appellation völlig
aufgegeben und das zweite Rechtsmittel ausschliesslich in den Dienst der allgemeinen Justiz gestellt
wird; und des weiterendavon, dassman vor der Überlassung der Frage der Angreifbarkeit einer Ent-
scheidung an das Ermessen des Richters nicht zurückschreckt. Jede gesetzliche Regelung, die in
gewissen Fällen ein Recht auf Rechtsmittel gäbe oder dem Richter vorschriebe, unter welchen be-