Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 45
Jahrhunderte gemacht worden sind, um dieses Problem zu lösen, muss zur Überzeugung gelangen,
dass es unmöglich ist, in einer abstrakten Formel das Problem des Staatszweckes im ethisch-poli-
tischen Sinne zu lösen. Das zeigt sich auch bei den Erörterungen, welche die Staatslehre der Gegen-
wart dieser Frage gewidmet hat.
Wenn z. B. Jellinek die Mitarbeit an der fortschreitenden Entwicklung der dem Staate ein-
gegliederten Personen und dann die Mitarbeit an der Entwicklung der menschlichen Gattung als
Endziel des Staates bezeichnet, %) so zeigt eine nähere Betrachtung, dass hier mit unbestimmten
mehrdeutigen Ausdrücken (Fortschritt, Entwicklung) operiert wird. \enn ferner Richard Schmidt.
aus dem Wesen der staatlichen Organisation folgern zu können glaubt, dass sich die Tätigkeit der
Staatsorgane nach den Bestrebungen der Gesamtheit der einzelnen Staatsglieder richten müsse,?:)
so bleibt es unklar, was zu geschehen hat, wenn diese Bestrebungen differieren. Die Beschaffung
aller Mittel zur Entfaltung des menschlichen Lebens in höchster Vollkommenbheit, wie G. Seidler?:)
den Staatszweck formuliert, hat das Bedenken gegen sich, dass der Begriff der Vollkommenheit
sehr verschieden gedeutet werden kann. Der Satz, dass die Herrschergewalt die Interessen der Be-
herrschten zu schützen und zu fördern hat (E. Loening) bedarf, wie sein Urheber selbst anerkennt,
der Ausführung und Erläuterung.*) Ebenso bieten die Formeln: Schutz der Gesamtinteressen,
der Durchschnittsinteressen aller Bürger, Verwirklichung des Gemeinwillens, das Wohl des Volkes,
die Erzielung der grössten Freiheit, die Realisierung der Solidarität usw. keinerlei Lösung des auf-
geworfenen Problems.':)
Es liegt in der Natur eines ethisch-politischen Problems, dass die Versuche zur Lösung des-
selben immer einen subjektiven Charakter an sich tragen oder doch nur zu mehrdeutigen, inhalts-
leeren Formeln führen. Nur in bezug auf einzelne Aufgaben des Staates kann auf Grund der ge-
schichtlichen Erfahrung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Behauptung aufgestellt werden,
dass die betreffenden Ziele auch in Zukunft vom Staate werden verfolgt werden. Dies gilt in erster
Linie vom Machtzweckedes Staates; doch könnte auch hier, wennsich dieallgemeine Friedens-
idee einmal realisieren sollte, eine Einschränkung der auf den Machtzweck gerichteten Massnahmen
des Staates eintreten. Aber auch dann wird die Ansammlung von Machtmitteln zum Schutze der
Ordnung im Innern des Staates immer noch unentbehrlich bleiben. Die Erzeugung und Fort-
bildung des Rechtes sowie der Schutz der Rechtsordnung wird nach aller mensch-
lichen Voraussicht immer als eine wesentliche Aufgabe des Staates anzusehen sein. Was aber den
sog. Kulturzweck anbelangt, so kann, trotz der in der Gegenwart herrschenden Tendenz zu
einer ständigen Erweiterung dieses Zweiges der Staatstätigkeit nicht mit voller Sicherheit behauptet
werden, dass wir es dabei mit einem sozialen Gesetze zu tun haben; vielmehr ist die Möglichkeit in
der Zukunft gegeben, dass wieder eine Einschränkung der Staatsfunktionen oder doch eine Über-
tragung derselben auf öffentliche Korporationen, insbesondere auf Interessentenvertretungen er-
folgen könne.
”) A a. 0. S. 255. Eine treffende Kritik dieser Formel bei Preuss a. s. O.
2) Allg. Staatslehre I S. 146, 7.
®) Das juristische Kriterium des Staates 8. 41.
“) Loening S. 705, Aus seiner Ausführung ergibt sich die Elastizität der vorgesohlagenen Formel,
“) Zutreffende Kritik einiger dieser Formeln bei Loening a. a. O,