Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

Fritz Stier-Somlo, Die deutsche Arbeiterversicherung. 
  
34 
  
Grundsatzes dargetan hat. Es ist ein geradezu unbegreiflicher Zustand, dass sich als Träger der reichs- 
gesetzlichenKrankenversicherung imReiche nach der im KaıserlichenStatistischen.Amte bearbeiteten 
Statistik für 1909 ausser den Knappschaftskassen nicht weniger als 23 279 Gebilde verschiedener 
Art, Gemeindekrankenversicherungen, Orts-, Betriebs- (Fabrık-), Bau- und Innungskrankenkassen, 
zugelassene freie Hilfskassen und landesrechtliche Hilfskassen befanden. Dabei ist die Mitglieder- 
zahl ganz ausserordentlich verschieden. Neben Kassen, dıe Zehntausende von Mitgliedern auf- 
weisen, finden sich zahlreiche Kassen mittlerer Grösse, daneben aber auch ın unverhältnismässig 
grosser Zahl Zwergkassen von weniger als 100 Mitgliedern. So besassen ım Jahre 1903 von je 100 
aller Kassen einschliesslich der Gemeindekrankenversicherung 44,6 weniger als 100 und 92,1 weniger 
als 1000 Mitglieder, nur 1,1 Prozent dieser Kasseneinrichtungen zählten mehr als 5000 Mitglieder. 
Es gibt noch Zwergkassen, die noch lange nicht 100 Mitglieder zählen. Unter der übermässigen 
Zersplitterung leidet die Leistungsfähigkeit der Kassen, leıden dıe Versicherten selbst. 
Eine der wichtigsten Fragen betrifft die Berechtigung der Erhaltung der Betriebs- 
krankenkassen. Über ihre Vor- und Nachteile ist sehr viel gestritten worden (vgl.meine 
Aufsätze in Reformblatt der Reichsversicherung 1907 S. 127ff., 144ff., 217ff.).. Alles ın allem 
wird man Vorteile und Nachteile der Betriebskrankenkassen ım Gleichgewicht finden können. 
Individuelle Erfahrungen mit der einen oder anderen Betriebskrankenkasse werden je nach 
ihrem günstigen oder ungünstigen Befunde Urteile der Interessenten leicht zu bestimmen geeignet 
sein. Jedoch kommt es auch hier auf den Durchschnitt an und es ist für die Allgemeinheit 
nur wichtig, was im grossen und ganzen als Vorzug oder Nachteil der Betriebskrankenkassen ange- 
sehen werden muss. Ich für meinen Teil bin auf Grund der obigen Erwägungen und Feststellungen, 
sowie infolge meiner Kenntnis einer grossen Zahl von wichtigen Betriebskrankenkassen durchaus 
dafür, diese Krankenkassenform auch in Zukunft zu erhalten. Es war gerechtfertigt, dass die R.V.O. 
sie beibehielt. 
Die Beibehaltung der Innungskrankenkassen war eine Frage der Opportunität. 
Das Gesetz hat festgelegt, dass die von den Innungskrankenkassen zu gewährenden Leistungen 
denjenigen entsprechen müssen, welche die das meiste leistende Ortskrankenkasse an dem betreffen- 
den Orte gewährt. Die R.V.O. hat hinsichtlich der Zentralisation die Innungskrankenkassen ebenso 
behandelt, wıe die Betriebskrankenkassen. (Vgl. 88 250—254, 256, 257 R.V.O.; Art. 17, 18, 23 E.G.) 
Dieknappschaftlichen Krankenkassen stellen eine Versicherungsform dar, 
dıe den besonderen Verhältnissen des Bergbaues und der Bergarbeiter entspricht. Hieran konnte 
wenig geändert werden ($$ 495ff.). Zu wünschen wärenurein Reichsberggesetz, aber auch 
dieses könnte ın der hier fraglichen Beziehung wohl kaum etwas anderes bringen, als das preussische 
Knappschaftsgesetz vom 17. Juni 1912. Die meisten deutschen Einzelstaaten haben sich ja ohnedies 
dem Vorbild des preussischen Berggesetzes angeschlossen. 
Keine Zweifel bestanden hinsichtlich der Aufhebung der Gemeindekrankenver- 
sicherung. Sıe hatte die geringsten Leistungen und wies den Mangel an Selbstverwaltung auf. 
Immer müsste man die Gemeindekrankenversicherung als Grundbeispiel dafür aufzeigen, wie wenig 
entwicklungsfähig eine Krankenkasseneinrichtung ist, die der selbstgewollten Tätigkeit der Ver- 
sicherten entbehrt. | 
Das Gesetzbuch schuf neu die Landkrankenkassen. Die R.V.O. zeigt hierbei den 
Fehler, dass dıe Selbstverwaltung nicht voll gewährt ist (88 226ff., 235, 327ff.). Der Name 
wurde mit Rücksicht darauf gewählt, dass der Hauptbestandteil der Mitglieder der neuen Kasse 
aus landwirtschaftlichen Arbeitern bestehen soll. Es kann die Landesgesetzgebung allerdings 
bestimmen, dass für das Gebiet oder Gebietsteile des Bundesstaats keine Landkrankenkassen 
neben den allgemeinen Ortskrankenkassen errichtet werden ($ 227; vgl. auch $$ 228-232). 
Die Hauptform der Kassen bleibt die Ortskrankenkasse. Sie soll für örtliche Be- 
zirke (eine grössere Stadt oder ein grösserer Kreis, wie Amtshauptmannschaft, Oberamt) errichtet 
werden. Sie ist, wie auch dieLandkrankenkasse, in der Regel innerhalb des Versicherungsamtsbezirks 
zu errichten. Im übrigen geht das Gesetz nicht radikal genug vor, indem es die vollständige Auf- 
hebung der auf der Berufsgemeinschaft beruhenden Ortskrankenkassen nicht vorsieht. Doch sind 
die örtlich abgegrenzten Kassen als Grundpfeiler der Gesamtorganisation des Krankenkassenwesens 
  
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.