Full text: Deutsches Kolonialblatt. XVIII. Jahrgang, 1907. (18)

nchst jestzustellen, wie sich denn die allgemeine 
Wurtschaftliche Weltlage in diesen 20 Jahren ge- 
khaltet hat, und welche Stellung das deutsche Vater- 
and in derselben einnimmt. Es ist hierbei zunächst 
zu konstatieren, daß jene 20 Jahre in Deutschland 
mit sich gebracht haben die stärkste numerische Ver- 
Pherung einer Nation, die in dem 19. Jahrhun- 
dert überhaupt sestgestellt werden kann, und eine 
Jermehrung des nationalen Vermögens um wenig- 
liens 30 0o0 000 Mark. 
„ Deutschland hatte im Jahre 1824 = 24 Millio- 
nen Einwohner, 1884 — 46 Millionen und 1905 
60 Millionen. Man hat berechnet, daß im Jahre 
v 65 Deuschland 104 Millionen Einwohner auf- 
welsen werde. Amerika und England zusammen 
verden aber in 100 Jahren 900 Millionen Seelen 
gahlen. „The world is rapidlbecoming english“ 
sagt Charles Dilke. Gegen Mitte des 18. Jahr- 
Nunderts gab es nur 9 Millionen Englisch- und 20 
i illionen Deutschredende, heute stehen 135 Millio- 
en Englischredenden etwa 75 Millionen Deutsch- 
ur ende gegenüber, weil England in seinen Kolo- 
1 en nicht bloß den Überschuß seines eigenen Volks- 
ums erhielt, sondern auch die europäische, ins- 
#ilondere deutsche Auswanderung sich assimilierte. 
Teutschland verlor also an Bedeutung in der Welt, 
* es keine Kolonien hatte, in denen es sein 
wolkstum ausbreiten konnte. Das war eine der 
Ichtigsten Fragen des verflossenen Jahrhunderts. 
- Jahre 1800 haben nur 9½ Millionen Euro- 
* außerhalb Europas gelebt, im Jahre 1900 
don 100 Millionen und in weiteren 100 Jahren 
nnen es leicht mehrere 100 Millionen sein. Das 
der zwingende Grund für unsere Weltpolitik. 
ausgeklärte Menschen haben deren Notwendigkeit 
arn vor mehr als 100 Jahren eingesehen, wie der 
ambtische Nat von Osnabrück, Justus Möser, der 
Natals schon schrieb, „nicht Lord Clive, sondern ein 
* von Hamburg würde am Ganges Besehle 
gen kern, wenn die wirtschaftspolitischen Bestrebun- 
Reic er deutschen Handelsstädte im alten Deutschen 
den v6 nicht Anfeindung, sondern Förderung gefun- 
#r Aatten.“ Was damals der Zwiespalt der terri- 
erha enn Interessen verhinderte, die Schaffung und 
der altung eines Kolonialbesitzes, das bedroht heute 
eeien wiespalt der Klasseninteressen und der Par- 
* „um Reiche; wir haben heute ein Kolonialreich 
lich o groß, wie der europäische Kontinent, näm- 
J o groß wie Deutschland, Österreich-Ungarn, 
können Urankreich und Spanien zusammen. Wir 
velche durch Erschließung dieses Reiches, in 
däischen geradeso wie auf der entsprechenden euro- 
sind #äê Fläche gewiß auch manche wertlose Gebiete 
ahr 7 viel von dem nachholen, was im vorigen 
fänn mddert in kolonialpolitischer Beziehung ver- 
nfior vorden ist. Wir sind heute durch das Ex- 
isbedürfnis unserer Industrie noch viel mehr 
  
65 20 
dazu gezwungen als früher. Wie das Ausland 
hierüber urteilt, sagt ein Franzose, Marcel Dubois, 
in seinem Buche „Koloniale Systeme und Rolonisa- 
tionsvölker": „Das Deutschland von heute muß ent- 
weder über See verkausen oder untergehen“. 
Der Menschen- und Kapitalzuvachs hat im 
wesentlichen seine Beschäftigung gesunden in der 
deutschen Industrie, und diese deulsche Industrie ist 
mehr denn je für ihre eigene Erhaltung angewiesen 
auf die Versorgung ausländischer oder überseeischer, 
jedenfalls nicht deutscher Gebiete, und sie ist an- 
gewiesen anderseits für ihr Arbeitsmaterial mehr 
denn je aus den Import von Rohstoffen aus außer- 
deulschen Gebieten für ihre Arbeit, und von Nah- 
rungsstoffen aus außerdeutschen Gebieten für ihre 
Ernährung. Und wenn auch die Nohproduktion in 
Deutschland in vielen Artikeln stark angestiegen ist, 
so sind doch andere Rohprodukte, in denen Deutsch- 
land früher ein starker Selbstproduzent gewesen ist, 
wie z. B. die Wolle, durch die Verschiebung der 
Weltmarkwerhältnisse relativ außerordentlich in 
der Quantität zurückgegangen. Dadurch ist unsere 
deutsche Wirtschaft, sowohl was den Absatz als auch 
was die Zahlungsbilanz angeht, in eine weit stär- 
kere Abhängigkeit von den Verhältnissen des Welt- 
markts geraten als früher. Gleichzeitig aber hat 
sich die Produktion anderer Länder, welche früher 
und auch zur Zeit und hoffentlich noch auf längere 
Zeit hin sichere Bezugs- und Absatzquellen gewesen 
sind, gewaltig verändert. Was wir in unserer 
deutschen Industrie in kleinerem Umfange täglich be- 
obachten können, hat sich auf dem Weltmarkte in 
großem Umfange teils eingeleitet, teils vollzogen. 
Das Ziel der deutschen Großindustrie ist klar, mög- 
lichst alle Stadien von der Kontrolle über das Roh- 
produkt an bis zur seinsten Verfeinerung in eine 
Hand zu bringen, wie z. B. in der Eisenindustrie 
vom Besitz der Kohlen und Erzgruben bis zur Her- 
stellung des armierten Kriegsschiffes alles in einer 
Einheit zu vereinigen und in anderen Industrien 
in ähnlicher Weise. Durch diese Geschlossenheit soll 
erzielt werden, was den Erfolg einer in sich voll- 
kommenen Industrie bedeutet, nämlich unter Aus- 
schaltung aller unnötigen Glieder und der Aus- 
schaltung des Zwischenhandels in der intensivsten 
Weise, soweit möglich, selbständige und durch die 
Mannigfaltigkeit der Erzeugnisse möglichst unab- 
hängige Gebilde zu schaffen. Diese Tendenz, die 
Sie bei der deutschen Großindustrie erkennen 
können, ist auch in der Weltwirtschaft in den letzten 
20 Jahren mehr oder weniger zum Durchbruch ge- 
langt. 
Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Entwick- 
lung der Vereinigten Staaten, welche zur Zeit, als 
unser Kolonialwesen begann, industriell noch wenig 
entwickelt, in bezug auf die Kapitalien noch stark 
vom Ausland abhängig und für die Bezahlung ihrer
	        
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