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Die Westprovinz umfaßt in der Hauptsache die
Stadt= und Staatenbildungen der einzelnen Teile des
VYoruba-Stammes. Die Yoruba wohnen zumeist in
großen, zum Teil weit auseinanderliegenden Städten,
mit ausgebildeter Verwaltungsorganisation, von deren
Größe und Bedeutung die oben mitgeteilten Bevöl-
kerungsziffern eine Vorstellung geben mögen. Sie
haben sich zumeist freiwillig durch Vertrag unter das
britische Protektorat gestellt und hierbei die Zusiche-
rung bedeutsamer Vorrechte erhalten. Im Laufe der
Jahre sind diese zum Teil beseitigt. Toch hat zum
Beispiel Abeokuta seine nahezu absolute Selbständigkeit
in internen Angelegenheiten gewahrt. In dem „Igba
United Government“ von Abeokuta wird die gesamte
Verwaltung durch Eingeborene ausgeübt. An der
Spitze steht der Alakin, der oberste Häuptling, ihm zur
Seite das Council. England hält in der Stadt, die
mit dem zugehörigen Landbezirk 1869 Quadratmeilen
umfaßt, einen Residenten, der zwar weitgehenden Ein-
fluß hat, aber keine gesetzliche Machtmittel besitzt, seine
Wünsche durchzudrücken. Der Prolektorats-Vertrag
sichert Abeokuta anusdrücklich die Unabhängigkeit in
allen inneren Angelegenheiten zu, und die Cgba sind
eisersüchtig auf deren Wahrung bedacht. So wird
denn auch der Oberhäuptling von Abcokuta von dem
Gouverneur in Lagos als nahezu unabhängiger Herr-
scher estimiert und bei offiziellen Angelegenheiten durch
eine große Kordialität in der Behandlung ausgezeich-
net. Die Verwaltung der Stadt durch die Eingebore-
nen ist im übrigen nach europäischem Muster einge-
richtet. Bezeichnend ist, daß das Gouvernement von
Süd-Nigerien dem Staat Abeokuta zum Bau einer
Wasserleitung E 30 000 vorgestreckt hat,
In Ibadan, zusammen mit seinem Landbezirk
etwa 4000 Quadratmeilen, geht dagegen die ursprüng-
liche Organisation langsam, aber stetig dem Versfall
eutgegen. Die Antorität des obersten Häuptlings, des
Bali, ist untergraben, die des englischen Residenten
wird noch nicht anerkannt. Die Zustände, die sich hier-
aus entwickeln, sind nicht erfreulich und kaum für eine
längere Dauer geeignet.
Die Ansammlungen der gebildeten und teilweise
verbildeten Neger in Lagos, zusammen mit dem Be-
stehen der mächtigen Voruba-Gemeinschaften im nähe-
ren und ferneren Hinterland, in denen die europäische
Kultur bisher erst ihren zersetzenden Einfluß geltend
gemacht hat, komplizieren die Verhältnisse in der
Lestprovinzg für die Verwaltungspolitik ganz erheb-
lich. Schon jetzt ist der NYoruba-Einfluß unter der
Intelligenz von Lagos prädominierend. Die Einge-
borenen-Zeitungen von Lagos suchen ihn nach Mög-
lichkeit zu stärken und den Nationalsinn ihrer Leser
zu wecken. Schon wird die Gründung einer unabhän-
gigen christlichen Kirche, die aber die Vielweiberei
gostattet, lebhaft erörtert. Jegliche Maßnahme der
Regierung wird in den Zeitungen eingehend und häu-
fig nicht rein sachlich kritisiert. Dank der Beziehungen
zwischen den führenden Köpfen in Lagos und der ein-
gesessenen Bevölkerung der großen Städte im Innern
gehen die Blätter mit diesen Kritiken auch in das
Land hinaus. Das Gift der Zersetzung der Europäer-
Autorität dringt so von Lagos aus auch in das
Innere.
In der Zentral= und Ostprovinz von Süd-Nige-
rien liegen die Verhällnisse wesentlich anders. Beide
Provinzen sind überwiegend von Heidenstämmen be-
wohnt, unter denen der Islam nur langsam Fort-
schritte macht. Warri und Calabar, die Hauptstädte
der Provinzen, sind lediglich die Sitze der Verwaltun-
gen und Stapelplätze für den europäischen Handel, auf
dem Gebiet der Eingeborenen-Politik kommt ihnen
eine besondere Bedentung nicht zu. In der Mangro-
ven= und Llpalm-Region stehen die Eingeborenen am
tiessten. Uber das eigene Dorf geht das Interesse des
Eingeborenen nicht hinaus. Etwas höher in dem
Kulturstand und etwas anspruchsvoller sind die Bewoh-
ner des nördlich sich anschließenden Wald= und Baum-
steppengeländes. Die wichtigsten Stämme sind die
Edo, etwa 400 000, und die Ibo, etwa 4 000 000 See-
len. Sie wohnen in zum Teil dicht beieinander-
liegenden Dörfern, die fast sämtlich selbständig sind.
Sie haben zum Teil Häuptlinge, zum Teil nicht, und
nur Familienälteste stehen den einzelnen Dörfern vor.
Ernstere politische Schwierigkeiten gibt es nicht mehr,
wenn auch die Unbändigkeit und der sich gegen jeden
Cingriff auflehnende Freiheitsdrang der Eingeborenen
hin und wieder ein bewaffnetes Einschreiten notwendig
macht.,. In der Zentralprovinz kam der Regierung
die in dem alten Benin-Reich, in gewisser Beziehung
einem Gegenstück zu dem Dahomey-Reich in Porto=
novo, bestehende Gewöhnung der Eingeborenen an die
Antorität einer übergeordneten Stelle zustatten. Unter
Verwertung der früheren Organisation des Benin-
Reiches wurden einzelne Mitglieder der alten Häupt-
lingsfamilie für ein oder mehrere Dörfer verantwort-
lich gemacht. In der Ostprovinz, bei New Calabar,
sind dann noch die Efik zu erwähnen, ein Fischer= und
Händlervolk mit ähnlicher sozialer Organisation.
Liegen hiernach die politischen Verhältnisse in diesen
beiden Provinzen verhältnismäßig einfach, so sind die
durch die Natur geschaffenen Schwierigkeiten um so
größer: ist doch das Gebiet im Delta zur Regenzeit
vielfach überschwemmt. Sie erklären auch mit ihrer
Unterbindung oder Erschwerung des Verkehrs den lie-
fen Kulturstand der dortigen Eingeborenen.
Auch in Nord-Nigerien treten sich Gegensätze
gegenüber. Am Benue entlang finden sich unabhängige,
selbständige Dorfschaften der Heiden ohne Stammes-
organisation oder Häuptlingsschaft. Ebenso sehlen
ihnen Standesunterschiede irgendwelcher Art. Das
Sprachengemisch ist so bunt wie im Transkara-Gebiet
Togos. Die Leute gehen noch mit Pfeil und Bogen
zur Ackerbestellung, jederzeit dem Überfall eines Nach-
bardorfes ausgesetzt. Einziger Handelsartikel ist Salz.
Da Land im Uberflusse vorhanden ist, so ist Privat-
eigentum an Land unbekannt. Teilweise sind sie noch
Kannibalen, denen Kleidung fremd ist. Auf etwas
höherer Stufe stehen die organisierten Heidenstämme,
namentlich westlich des Nigers und im Sndosten des
Protektorates wohnhaft, unter anerkannten Häupt-
lingen. Die wichtigsten unter ihnen sind die Mun-
schis, die unter sich in verschiedene Landschaften zer-
fallen. Sie sind ausgezeichnete Ackerbauer, aber gelten
als wild und unbotmäßig und haben ja bekanntlich
auch der deutsch-englischen YNola-Croß-Grenzerpedition
nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet. Diese halb-
organisierten Stämme waren das Hauptgebiet der
früheren Sklavenjagden und sind zum Teil bei den
früheren Kämpfen in eine Abhängigkeit der moham-
medanischen Staaten des Nordens geraten.
In die weite Hochfläche zwischen Niger und
Tschad teilen sich das alte, schon 1489 auf portugie-
sischen Karten genannte Reich Bornu im Osten und
westlich die Haussa-Slaaten, die als geistliches Ober-
haupt den Sultau von Sokoto anerkennen, im übrigen
sich aber allmählich zu selbständigen Staaten mit eige-
nen Dynastien entwickelten. Tiese waren schon vor
der britischen Herrschaft wohlorganisierte, mächtige
Staatswesen mit anerkannten Emiren als Oberhäupt=
tern, einer geregelten Gerichtspflege, in der das Recht
des Koran zur Anwendung kam, und mit einem aus-
gebanten Verwaltungs= und Besteuerungs-Snstem.
Die wichtigsten unter ihnen sind Kano, Zaria, Bida
und Kontagora.