36 9. Der Sturz Tassilos.
ihm gegen Karl keine Hilfe geschickt. Sicher beglaubigt aber sind die Reibe-
reien zwischen dem herzoglichen Hose und den fränkisch gesinnten Mitgliedern
des höheren Klerus, namentlich dem Bischof Arbeo von Freising.
Sein Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl von Freising hat später
nach der Katastrophe von 788 den Schleier etwas gelüftet: „Tassilo und
seine Gemahlin Liutbirga hätten der Freisinger Kirche viele Gotteshäuser
entzogen aus Unwillen über den Bischof Arbeo, den sie beschuldigten, daß er
dem König Karl und den Franken treuer sei als ihnen.“ Der Grund lag
tiefer. Als Ausfluß des germanischen Begriffes vom Eigentum an Grund
und Boden hatte sich in Bayern das Eigenkirchensystem, das Eigentum des
Grundherrn an den von ihm gegründeten Kirchen, herausgebildet und im
Zusammenhang damit das Recht den Vorstand der Kirche zu bestellen. Bischof
Arbeo von Freising suchte dieses Eigenkirchensystem zu zerstören und der alten
kirchenrechtlichen Anschauung, daß die Bischöfe Eigentümer des gesamten
Kirchenvermögens ihrer Diözese seien, Geltung zu verschaffen. Der Bischof
zwang die Eigenkirchenpriester die Kirchen an die Kathedralkirche zu übertragen.
Auch die Grundherren selbst wurden veranlaßt ihre Eigenkirchen an die
Kathedralkirche zu schenken. In vielen Fällen wurde das Ziel erreicht.
Schwieriger war der Kampf gegen die Klöster. Die Bischöfe forderten
Ülbergabe auch der klösterlichen Eigenkirchen in das bischöfliche Eigentum.
Sie forderten von den Mönchen namentlich Herausgabe der öffentlichen
Kirchen und Einstellung ihrer Seelsorgetätigkeit. Die Bischöfe suchten und
fanden in dem Streite eine Stütze im Frankenreich, die Klöster suchten und
fanden einen Rückhalt an der heimischen Dynastie. Darüber kam es bei der
politischen Spannung zu einem schweren Konflikt. Die bischöfliche Partei
beschuldigte den Herzog, namentlich aber die Herzogin Liutbirga der Feind-
seligkeit gegen die Bischöfe, der Begünstigung der Klöster. Das herzogliche
Haus beschuldigte den Bischof von Freising fränkischer Gesinnung.
Es kam ebenso zu Reibereien zwischen dem Herzog und den ins fränkische
Interesse gezogenen, dem Herzog zu Aufsehern gegebenen königlichen Vasallen
in Bayern. Das ist nicht bloß zu schließen aus der warmen Fürsorge, mit
der Karl deren Interesse gegen das Herzogtum im Jahre 781 vertrat, sondern
auch aus den späteren Ereignissen des Jahres 788. Vermutlich strebten diese
Vasallen eine Stellung außer oder über der bayerischen Stammesverfassung
an und wurden in diesem Bestreben von den Franken ermuntert, die sichtlich
ihre Aufgabe nicht in einer Versöhnung, sondern in einer Verschärfung der
Gegensätze erblickten.
Zugleich scheint die Forderung unbedingter Heeresfolge auf den Wider-
stand des Herzogs gestoßen zu sein, dessen Interessen wie früher so auch
damals auf dem avarisch-slavischen Kriegsschauplatze im Südosten lagen.
Unter diesen Verhältnissen ist es begreiflich, daß sich Tassilo zu Außerungen
hinreißen ließ: selbst wenn er zehn Söhne hätte, würde er sie lieber opfern