Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

& 32. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. 293 
Dritter Abschnitt. 
Der Reichstag*). 
8 32. Allgemeine Charakteristik. 
Die Institution des Reichstages des Deutschen Reiches bietet staats- 
rechtlich keine Schwierigkeiten dar, wie Kaisertum und Bundesrat, da 
sie keine neue und der Reichsverfassung eigentümliche Einrichtung 
ist, sondern dem im konstitutionellen Staatsrecht längst wissenschaft- 
lich erörterten Begriff der sogenannten Volksvertretung entspricht. In 
politischer Beziehung nimmt das Deutsche Reich zwar unter allen 
groben Staaten auch in dieser Hinsicht eine besondere Stellung ein, 
weil hier das Einkammersystem mit einem allgemeinen fast unbe- 
schränkten Wahlrecht verbunden und dem Reichstage eine höchst 
ausgedehnte Kompetenz eingeräumt ist; für die staatsrechtliche Kon- 
struktion des Reichstages als eines Organs des Reiches und für die rein 
juristische Bestimmung der ihm obliegenden Funktionen ist dies aber 
nicht von erheblicher Bedeutung. Seinem Begriff und Wesen und 
seiner Stellung im Verfassungsbau des Reiches nach unterscheidet sich 
der Reichstag nicht von anderen Volksvertretungen, Parlamenten, 
Kammern, Landtagen !). 
*, Seydel in Hirths Annalen 1880, S. 352 ff. und Kommentar S. 190 ff.; v. 
Rönnel, 828ff.; Zorn], 8 8 und in Holtzend. Rechtslexikon Bd. 3, S. 409; G. 
Meyer 8$128fg.; Schulze IIl,S.71fg.; v.Jagemann S.115ff.; Löning S. 70ff.; 
Anschütz, Enzykl. II, S. 550 ff. 
1) Daß der Reichstag keine eigenartige Schöpfung ist, zeigt sich äußerlich schon 
darin, daß der ihn betreffende Abschnitt der Reichsverfassung die Originalität ver- 
missen läßt, welche die übrigen Abschnitte derselben auszeichnet. Alle Artikel dieses 
Abschnittes sind Artikeln der preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 
nachgebildet, z. T. ihnen wörtlich entnommen, wie folgende Zusammenstellung zeigt. 
Reichsverfassung. Preußische Verfassung. 
21 78 Abs. 2, 3. 
22 Abs. 1. 79 
— Abs. 2. Preßgesetz vom 12. Mai 1851, 8 38. 
23 (81 Abs. 3.) 
24 13 
25 5l 
26 52 
27 78 Abs. 1. 
28 80 
29 83 
30 84 Abs. 1, in der Fassung des preußischen 
Wahlgesetzes für den verfassungsbera- 
tenden Reichstag v. 15. Okt. 1866, 8 17. 
al 84 Abs. 2—4. 
32 (85). 
Hinsichtlich dieses Teiles des Reichsrechts kommt daher dem preußischen Staats- 
recht für die historische und dogmatische Erörterung eine erhöhte Bedeutung zu.
	        
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