8 33. Die Zuständigkeit des Reichstages. 307
(Reichsgesetzbl. 5. 90) anerkannte Recht, daß der Reichstagspräsident
die Reichstagsbeamten anstellt und die vorgesetzte Behörde derselben
bildet.
VI. In der staatsrechtlichen Literatur werden fast allgemein den
Volksvertretungen noch einige andere Rechte zugeschrieben, welche
bei näherer Betrachtung keine Rechte sind, weil sie keinen recht-
lichen Inhalt und keine rechtliche Wirkung haben. Auch in den
meisten Darstellungen des Reichsrechts haben solche Pseudorechte
des Reichstages einen Platz gefunden). Es sind namentlich folgende
zwei:
1. Das Recht, Interpellationen an die Reichsregierung zu rich-
ten?). Wäre die Regierung verpflichtet, eine Antwort zu erteilen, wäre
also der Reichstag befugt, durch solenne Fragestellung die Regierung zur
Erteilung einer Auskunft, zur Ablegung einer Rechenschaft zu zwingen,
so wäre das Interpellationsrecht in der Tat ein Recht von weitreichen-
der staatsrechtlicher Bedeutung°). Allein da unzweifelhaft die Reichs-
regierung diese Verpflichtung nicht hat, so ist das Interpellationsrecht
des Reichstages, oder richtiger der Reichstagsmitglieder, weiter nichts
als die allgemeine, recht vielen Menschen zukommende Fähigkeit, an
die Regierung Fragen zu stellen, welche dieselbe je nach ihrem Be-
lieben einer Antwort würdigen oder unbeantwortet lassen kann ®).
Politisch mag eine im Reichstage gestellte Interpellation von der höch-
sten Wichtigkeit sein; staatsrechtlich ist sie vollständig wirkungslos
und ohne alle Bedeutung.
Man könnte vielleicht darauf Gewicht legen, daß in der Geschäfts-
ordnung des Reichstages & 32, 33 die Behandlung der Interpellationen
geregelt ist und dadurch die Stellung von Interpellationen ein juristisch
bestimmtes Institut des öffentlichen Rechts geworden sei. Eine solche
Auffassung würde aber auf einer unrichtigen Würdigung der Geschäfts-
ordnung beruhen.
Im Laufe jeder Verhandlung des Reichstages kann jedes Reichs-
tagsmitglied über jeden, mit dem Gegenstande der Verhandlung in
Zusammenhang stehenden Punkt Fragen an den Reichskanzler oder
den Staatssekretär eines Reichsamts oder einen Regierungskommissar
richten, ohne daß es irgend welcher Förmlichkeiten bedarf und ohne
daß die 88 32, 33 der Geschäftsordnung Anwendung finden. Von die-
1) Vgl. zu dem folgenden die Verhandlungen des verfassungsberatenden Reichs-
tages vom 29. März 1867. Stenogr. Ber. S. 445 ff.
2) Thudichum S. 2l3fg.; Riedel S. 36 unter 6c; v. Rönnel, S. 268; v.
MohlS. 836; Meyer, Erörterungen S. 50.
3) Viele Verfassungen haben ein solches Recht anerkannt, insbesondere auch die
preußische, Art. 81, Abs. 3, in Beziehung auf Beschwerden, welche beim Land-
tage eingehen.
4) Seydel schließt sich der hier entwickelten Auffassung an in den Annalen
1880, S. 430 und Kommentar S. 203; ebenso G. Meyer, Staatsrecht 8128; Zorn],
8. 241; Wagnera.a. O. S. 138.