Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

10 $ 54. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. 
geschichte des Art. 5 der Verfassung und vermittelt das richtige Ver- 
ständnis desselben !. Bei den preußischen Reformvorschlägen wurde 
als erster und wichtigster Punkt die Beseitigung des Einstimmigkeits- 
erfordernisses für Bundesbeschlüsse und der Ersatz desselben durch 
die Zustimmung der Volksvertretung gefordert. Die Grundzüge vom 
11. Mai 1866 verlangen an erster Stelle: »Einführung einer periodisch 
einzuberufenden Nationalvertretung in den Bundesorganismus. Durch 
Beschlußfassung der Nationalvertretung wird auf speziell bezeichneten 
Gebieten der künftigen Bundesgesetzgebung die erforderliche 
Stimmeneinheit der Bundesglieder ersetzt« In dem 
Entwurf vom 10. Juni 1866 wird im Art. II derselbe Gedanke formu- 
liert : »Die gesetzgebende Gewalt des Bundes wird von dem Bundestage in 
Gemeinschaft mit einer in regelmäßigen Zeiträumen zu berufenden 
Nationalvertretung ausgeübt. Zur Gültigkeit der Beschlüsse ist 
die Uebereinstimmung der Mehrheit des Bundestages mit der Mehr- 
heit der Volksvertretung erforderlich und ausreichend.<« 
Auf diesem Artikel beruht die Fassung des Art. 5, Abs. 1 der nord- 
deutschen Bundesverfassung und der Reichsverfassung. Dieser Artikel 
hatte demnach die Tendenz, das im ehemaligen Deutschen Bunde so- 
wie im Zollverein herrschend gewesene Prinzip der Einstimmigkeit 
durch den Grundsatz übereinstimmender Majoritätsbeschlüsse 
des Bundesrates und Reichstages zu ersetzen ?) und dadurch eine Um- 
gestaltung der politischen Verhältnisse Deutschlands von einschneidend- 
ster Bedeutung zu bewirken. In den Art. 1 bis 5 der Reichsverf. 
kommt der Gegensatz des Bundesstaats gegen den früheren Staaten- 
bund zum Ausdruck und jede einzelne Bestimmung dieser Artikel ist 
aus diesem Gegensatz zu verstehen. Es ist dies ein für die Interpre- 
tation dieser Artikel wichtiger Gesichtspunkt. Dagegen lag es gewiß 
außerhalb ihrer Tendenz, die staatsrechtlichen Probleme zu lösen, 
welche sich an den Vorgang der bundesstaatlichen Gesetzgebung knüpfen. 
Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinstimmung der Mehr- 
heitsbeschlüsse des Bundesrates und des Reichstages zu einem Reichs- 
gesetze erforderlich und ausreichend ist, widerspricht nicht nur der 
Natur der Sache, sondern auch den Anordnungen der Art. 2 und 17 
der Reichsverfassung. Uebereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse der 
beiden Versammlungen sind zu einem Reichsgesetze zwar erforderlich, 
aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, so müßte eine vom Bun- 
desrate an den Reichstag gebrachte Gesetzesvorlage in dem Augenblicke 
zum Gesetz werden, in welchem die Mehrheit des Reichstages sie ge- 
nehmigt hat). Die Anordnung des Art. 5 betrifft nur die Feststellung 
des Gesetzesinhalts; hierzu ist die Uebereinstimmung der Mehr- 
1) Vgl. Franz Schmid, Zur Auslegung des Art.5 der RV. (in der Zeitschrift 
für die gesamte Staatswissensch. Bd. 55 S. 664 ff. und Bd. 61 S. 294 ff.). 
2) Vgl. Hänel, Studien L, S. 51. 
3) Vgl. auch Seidel, Kommentar S. 116, 117.
	        
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