8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 27
die Vorlage im Namen des Kaisers gemacht werden soll, angedeutet
zu sein.
Der Kaiser aber ist verfassungsmäßig verpflichtet, die Vorlage an
den Reichstag nach Maßgabe der Beschlüsse des Bun-
desrates zu bringen; d. h. er darf weder die Einbringung ganz
unterlassen oder unnötig verzögern, noch darf er die Vorlageanders
einbringen, als der Bundesrat sie beschlossen hat’). Gesetzentwürfe,
welche der Bundesrat verworfen hat, oder welche in demselben gar
nicht zur Beschlußfassung gelangt sind, kann der Kaiser dem Reichs-
tage nicht vorlegen lassen; der Kaiser als solcher hat das Recht der
Initiative beim Reichstage so wenig wie im Bundesrate ?).
1) Da es nach Art. 16 der Reichsverfassung die Pflicht des Kaisers ist, die vom
Bundesrat beschlossenen Gesetzentwürfe dem Reichstage vorzulegen, so kann der
Reichskanzler nicht unter Berufung auf seine „Verantwortlichkeit“ sich der Erfüllung
dieser Pflicht widersetzen, wenn er mit einem vom Bundesrat gefaßten Beschlusse
sachlich nicht einverstanden ist. Denn die Verantwortlichkeit erstreckt sich nur
darauf, daß der Beschluß vom Bundesrat verfassungs- und geschäftsordnungsmäßig
gefaßt worden ist und daß die Vorlage so, wie sie der Bundesrat beschlossen hat,
an den Reichstag gelangt, aber nicht auf den Inhalt derselben. Eine Verantwortlich-
keit des Reichskanzlers für einen von seinem Willen unabhängigen Vorgang hat keinen
Sinn; durch den Beschluß des Bundesrates wird der Reichskanzler vielmehr von der
Verantwortlichkeit für den Inhalt des Gesetzentwurfs entlastet. Praktisch würde
jene Ausdehnung der angeblichen Verantwortlichkeit (gegen wen ’?) lediglich die Ein-
führung eines Veto des Reichskanzlers gegen alle ihm nicht behagenden Beschlüsse
des Bundesrates bedeuten, von dem die Reichsverfassung nichts weiß. Ein hierher
zu beziehender Vorgang ereignete sich 1880. Der Bundesrat beschloß am 3. April
1880 bei der Beratung des Gesetzentwurfs, betreffend die Reichsstempelabgaben, daß
Quittungen über Postanweisungen und Postvorschußsendungen steuerfrei bleiben
sollten. Infolge dessen forderte der Reichskanzler seine Entlassung, „weil er einen
gegen Preußen, Bayern und Sachsen gefaßten Majoritätsbeschluß weder vertreten,
noch in seiner Stellung als Reichskanzler von dem Benefizium Gebrauch machen
könne, welches Art. 9 der Reichsverfassung der Minorität gewährt“. Das Entlassungs-
gesuch wurde jedoch nicht genehmigt und der Konflikt dadurch vermieden, daß der
Bundesrat seinen Beschluß nach den Wünschen des Reichskanzlers abänderte. Vgl.
die treffliche Erörterung der Frage von Hänel, Studien II, S. 46 ff, mit welchem
auch Hensel in Hirths Annalen 1882, S. 14, übereinstimmt, sowie die Verhand-
lungen des Reichstages vom 24. Februar 1881. Derselben Ansicht sind auch Schulze,
Deutsches Staatsrecht U, S. 116; v. Rönnel, S. 230; Meyer $ 132, Note 9 und
Anteil der Reichsorgane S. 72 ff.; Seydel, Kommentar S. 176; Frormann
S. 50 fg.
2) Seydel in v. Holtzendorffs Jahrb. III, S. 285. „Die Gesetzes- und ander-
weitigen Vorlagen an den Reichstag sind Vorlagen der Verbündeten, nicht des Kai-
sers; der letztere vermittelt nur die Uebersendung. Er kann Vorlagen an den Reichs-
tag auf eigene Hand nicht machen.“ Uebereinstimmend auchMeyer$163; Schulze,
Deutsches Staatsrecht IL, S.117; v. Rönne I, S. 213. Allerdings erscheinen aber der
Form nach die Vorlagen an den Reichstag gemäß Art. 16 als kaiserliche Vorlagen,
wie Fricker S. 24, Note 1 richtig bemerkt. Vgl. hierüber die sehr zutreffende
Ausführung von Hänela.a. O.S. 43 fg. Insbesondere ist dem letzteren darin bei-
zustimmen, daß der Kaiser auf Grund des Art. 16 befugt ist, zu prüfen, ob der Bun-
desrat die Vorlage an den Reichstag in verfassungs- und geschäftsordnungsmäßiger
Weise beschlossen hat und daß der Reichskanzler unter seiner Verantwortlichkeit