36 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
tag genehmigten Gesetzentwurfs besteht daher überhaupt nicht, sondern
es ist lediglich ein Gebot von Treu und Glauben, das auch im öffent-
lichen Recht zu beobachten ist, daß die Regierung nicht einen früher
einmal vom Reichstag genehmigten Gesetzesentwurf unter gänzlich
veränderten politischen Verhältnissen sanktioniere '.. Der Reichstag
hat in einer Resolution vom 16. April 1904 (Stenogr. Berichte S. 2022 ff.)
verlangt, daß die Zeitgrenze durch ein Reichsgesetz bis zu dem Tage
des Zusammentretens des neugewählten Reichstages festgesetzt werde;
ein solches Gesetz ist aber bisher nicht ergangen.
4. Die Eingangsformel der Reichsgesetze gibt dem Vorgange, durch
welchem ein Reichsgesetz zustande kommt, keinen völlig getreuen
Ausdruck. Sie ist ganz so gefaßt, als wäre der Bundesrat eine Abtei-
lung der Volksvertretung und das Reich nicht ein Bundesstaat, sondern
eine Monarchie mit zwei Kammern. Die erfolgte Zustimmung des
Bundesrates wird neben der des Reichstages erwähnt, als wäre bei der
Reichsgesetzgebung die Stellung beider Versammlungen ebenso gleich-
artig, wie etwa die Stellung der beiden Häuser des preußischen Land-
tages. Den Gesetzesbefehl erläßt der Kaiser; allerdings »im Namen
des Reiches«, aber ohne Andeutung, daß der Wille des Reiches, das
Gesetz zu sanktionieren, durch das Organ des Bundesrates hergestellt
worden ist. Trotzdem steht die Sanktionsformel nicht im Widerspruch
mit der Rolle, welche nach der Reichsverfassung dem Bundesrat zu-
gewiesen ist. Denn der Bundesrat ist durchweg darauf beschränkt,
Beschlüsse zu fassen; dagegen erläßt er niemals formell Befehle.
So wie auf dem ganzen Gebiete der Verwaltung der Reichskanzler
den Beschluß des Bundesrates zur Ausführung bringt, indem er die
Befolgung desselben befiehlt, sei es auch nur in der Form der Bekannt-
machung; so wird bei der Gesetzgebung der von den Bundesregie-
rungen gefaßte Sanktionsbeschluß vom Kaiser ausgeführt, indem er
die Befolgung desselben befiehlt. In der Eingangsformel der Reichs-
gesetze ist demnach hinter dem Worte »verordnen« hinzuzudenken:
auf Grund und in Ausführung des vom Bundesrate Namens der ver-
bündeten Regierungen gefaßten Sanktionsbeschlusses. Tatsächlich sind
diese Worte entbehrlich, weil der Zustimmung des Bundesrates ohne-
dies in der Eingangsformel Erwähnung geschieht; freilich ohne An-
deutung, daß die Zustimmung des Bundesrates etwas wesentlich an-
deres in sich schließt als die Zustimmung des Reichstages ?).
1) Vgl. über diese Frage meine Abhandl. in der D. Juristenzeitung 1904 S. 321 ff.
Uebereinstimmend Kahl iin der Tägl. Rundschau v. 1904 Nr. 127; Kleinea.a. O.
(eine gründliche Erörterung); Burger in der Münchener Allgemeinen Rundschau
1904 Nr. 2, 3u.4; Anschütz, Enzyklop. S. 600; Pabst, Die Sanktions- und Publi-
kationsfrist, Berlin 1909; Dambitsch, S. 177 ff.; Vgl. auch Seydel, Komment.
(2. Aufl.) S. 118 u. Jellinek, Gesetz u. Verordn. S. 330. |
2) Die Publikationsformel der Reichsgesetze beruht auf keiner Anord-
nung der Reichsverfassung, sondern lediglich auf der Praxis, welche sich einfach an
die preußische Formel angeschlossen hat. Es lag dies um so näher, als im Nord-