2 & 54. Der Begriff und die Erfordemisse des Gesetzes.
Im materiellen Sinne bedeutet Gesetz die rechtsverbindliche
Anordnung eines Rechtssatzes. Der Begriff ist demnach
aus zwei Elementen zusammengesetzt, welche durch die Worte »An-
ordnung« und »Rechtssatz« gegeben sind. Den Gegensatz dazu bildet
in einer Beziehung das Gewohnheitsrecht'), welches zwar
Rechtssätze enthält, deren Geltung aber nicht auf einer Anordnung,
also einem Willensakt, sondern auf dem Bewußtsein von der Rechts-
verbindlichkeit einer tatsächlich bestehenden Uebung beruht. Den
Gegensatz in der anderen Richtung bildet das Rechtsgeschäft,
welches zwar ein Willensakt, eine rechtswirksame Anordnung ist, aber
nicht Rechtssätze zum Inhalt hat, sondern subjektive Rechte und
Pflichten.
Aus dem Begriff des Gesetzes leiten sich folgende Sätze ab:
1. Es gehört zum Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne des
Wortes, daß dasselbe einen Rechtssatz aufsellt; aber nicht, daß
dieser Rechtssatz eine allgemeine Regel enthält, welche auf viele
oder auch nur auf eine unbestimmte Anzahl von Fällen anwendbar
ist. Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daß dasselbe gewöhn-
lich solche Regeln bildet, welche in allen Fällen Anwendung finden
sollen, in denen ein bestimmter Tatbestand gegeben ist, und da das
Gesetz eine Rechtsquelle ist, so hat es gewöhnlich, dieser Natur des
Rechtes entsprechend, einen allgemeinen Rechtssatz zum Inhalt. Allein
dies ist eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Gesetzesbegriffes.
Mit dem Begriff des Gesetzes ist es vereinbar, daß dasselbe einen
Rechtssatz aufstellt, der nur auf einen einzigen Tatbestand anwendbar
ist, oder nur ein einzelnes Rechtsverhältnis regelt?). Es muß aller-
1) Das Wort „Gesetz“ bedeutet streng genommen die Erscheinungsform
des vom Staate angeordneten Rechts; es wird aber auch gebraucht, um den in dem
Gesetz enthaltenen „Rechtssatz“ zu bezeichnen, also eine Regel, so wie man von den
„Gesetzen“ der Logik, der Physik, der Technik usw. spricht. In diesem Sinne wird
das Wort z. B. verwendet, wenn man leges generales und speciales, permissivae und
prohibitivae, cogentes und dispositivae, perfectae und imperfectae usw. unterscheidet,
wenn man von gesetzlichen Befugnissen, Voraussetzungen, Rechtsfolgen u. dgl.
spricht. Hier wird der Gegensatz gegen das Gewohnheitsrecht nicht betont, sondern
das dem Gesetz und Gewohnheitsrecht gemeinschaftliche Begriffsmoment, daß sie
eine Rechtsregel enthalten, ausschließlich in das Auge gefaßt. Daraus erklärt es sich,
daß man dann so weit gehen kann, den Ausdruck „Gesetz“ ganz gleichbedeutend
mit „Rechtsnorm“ zu verwenden, so daß er auch das Gewohnheitsrecht mit umfaßt,
indem die gesetzliche Erscheinungsform des Rechts bei den staatlichen Zuständen
der Gegenwart die gewohnheitsrechtliche an Wichtigkeit so sehr überragt, daß man
die letztere außer acht lassen und die Spezies (Gesetzesrecht) für das Genus (Rechts-
norm) setzen kann. In diesem Sinne erklären die Einführungsgesetze zur Strafpro-
zeßordnung 8 7, zur Zivilprozeßordnung $ 12, zur Konkursordnung $ 2, zum BGB.
Art. 2, „Gesetz“ bedeute jede „Rechtsnorm“.
2) Es ist dies ein sehr bestrittener Punkt. Die neueste Literatur über diese
Streitfrage ist zusammengestellt bei G. Meyer, Staatsrecht 88, Anm. 1 und Selig-
mannS.61lff. Die richtige Ansicht wird jetzt auch von Jellinek S. 236ff. ein-
gehend begründet. Vgl.auch Seydel Bd.2, S.309; Rosin, Polizeiverordnung S.5;