Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 71 
wirklicht, oder wenn seine materielle Geltung an eine Bedingung ge- 
knüpft ist, welche nicht eintritt, wird seine formelle Kraft dadurch 
nicht beeinträchtigt. 
Hierdurch ist auch der Schlüssel gegeben zur Lösung der interes- 
santen Frage, welches von zwei einander widersprechende Gesetzen 
den Vorrang hat, wenn das eine früher verkündigt, aber später in 
Kraft getreten ist als das andere. Aus dem Gebiet der Reichsgesetz- 
gebung dient folgender Fall als Beispiel. Das Patentgesetz vom 25. Mai 
1877 (in Kraft getreten am 1. Juli 1877) enthält eine Vorschrift über 
den Beweis durch Sachverständige, welche von den Vorschriften der 
Zivilprozeßordnung (verkündigt bereits am 19. Februar 1877, in Kraft 
getreten erst am 1. Oktober 1879) abweicht; es fragt sich, derogierte 
das Patentgesetz der Zivilprozeßordnung oder vice versa? Sehen wir 
bei der Entscheidung dieser Frage davon ab, inwieweit das Patentge- 
setz als lex specialis etwa den Vorrang hat, und nehmen wir an, daß 
die Entscheidung allein nach der Regel lex posterior derogat priori 
zu treffen wäre, so ergibt sich, daß der in der Zivilprozeßordnung er- 
klärte Gesetzgebungswille der ältere, der im Patentgesetz erklärte der 
neuere ist, daß demnach die in der Zivilprozeßordnung sanktionierten 
Normen nur mit der Modifikation in Geltung treten konnten, welche 
sie durch $ 18 des Patentgesetzes erfahren haben, gerade so, als wäre 
der Wortlaut der Zivilprozeßordnung vor dem Anfangstermin ihrer 
Geltung ausdrücklich abgeändert worden!). Die Priorität bestimmt 
sich nicht nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens, sondern nach dem 
der Verkündigung, d.h. die formelle Gesetzeskraft ist maßgebend. 
Hiermit steht im Zusammenhange die Regel, daß, wenn ein Gesetz 
den Kaiser oder eine Reichsbehörde zum Erlaß einer Verordnung er- 
mächtigt oder anweist, die Verordnung sofort rechtsgültig erlassen 
werden kann, ohne daß der Zeitpunkt abgewartet zu werden braucht, 
mit welchem das Gesetz »in Kraft tritt. Würde das Gesetz vorher 
ohne Wirksamkeit sein, so würde ja auch diese Ermächtigung erst mit 
diesem Zeitpunkte in Kraft treten und eine vorher erlassene Verord- 
nung ohne staatsrechtliche Befugnis erlassen, also rechtsungültig sein. 
Nun müssen aber gewöhnlich die Ausführungsbestimmungen gleich- 
zeitig mit dem Gesetz selbst in Geltung treten, also vor diesem Zeit- 
punkt erlassen werden; in der Praxis hat man auch niemals daran 
den geringsten Anstoß genommen, und dies mit Recht; denn die for- 
melle Rechtsgültigkeit der Ausführungsverordnung wird getragen durch 
die formelle Gesetzeskraft des ermächtigenden Gesetzes’). 
1) Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen vom 20. Dezember 1881, 
Bd. 6, S. 339; Seydel, Bayer. Staatsrecht II, S. 314; Behrend, Handelsrecht I, 
$ 17, Note 13. 
2) Einen anderen Anwendungsfall bilden die sogenannten Blankettstraf- 
gesetze, welche formelle Gesetzeskraft sogleich mit der Publikation erlangen, 
dagegen verbindliche Kraft (Anwendbarkeit) erst in Verbindung mit den vielleicht
	        
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