Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

$ 101. Das stehende Heer. 91 
5. Es entsteht nun die Frage, ob bei der Feststellung der Friedens- 
präsenzstärke durch Gesetz Art. 5, Abs. 2 der Reichsverfassung An- 
wendung zu finden habe. Die Vorschrift des Art. 5, Abs 2 greift nur 
Platz bei der Abstimmung innerhalb des Bundesrates; hier aber 
gibt die Stimme des Präsidiums bei Gesetzesvorschlägen über das 
Militärwesen den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhal- 
tungderbestehenden Einrichtungen ausspricht. Die Reichs- 
verfassung stellt diesen Satz ganz unbedingt und ohne Einschränkungen 
und Unterscheidungen auf; namentlich ist es auch nicht erforderlich, 
daß »die bestehende Einrichtung« überhaupt auf einem Gesetz beruhe'!). 
Daß aber die Friedenspräsenzstärke und die durch dieselbe bedingte 
Stärke der Kadres eine bestehende Einrichtung ist, kann nicht 
in Abrede gestellt werden. Man kann höchstens behaupten, daß sie 
vom Ende des Zeitraums ab, für welchen das Gesetz erlassen ist, nicht 
mehr eine »gesetzlich bestehende Einrichtung« sei, immerhin aber 
ist sie eine »bestehende Einrichtung« und der Bundesrat kann daher 
gegen den Widerspruch Preußens keinen Gesetzesvorschlag beschließen, 
der auf eine Abänderung dieser bestehenden Einrichtung geht’). 
Dies findet gleichmäßig Anwendung sowohl auf ein Etatsgesetz, 
welches eine andere Präsenzstärke als die bestehende zur Grundlage 
der Militärausgabeposten nimmt, als auch auf ein besonderes, 
die Friedenspräsenzstärke auf längere Zeit oder auf unbestimmte 
Dauer. festsetzendes Reichsgesetz. 
Friedenspräsenzstärke vom 25. März 1899, Art. I, $ 4; vom 15. April 1905, Art.1, 83; 
vom 27. März 1911, 8 3. 
1) Der Abg. Twesten, auf dessen Antrag der Abs. 2 des Art. 5 in die Ver- 
fassung gekommen ist, sagte im verfassungberatenden Reichstage von 1867 (Steno- 
graphische Berichte S. 309): „Man hat gemeint, statt ‚Einrichtungen‘ zu sagen ‚Ge- 
setze‘. Ich glaube aber, daß ‚Einrichtungen‘ stehen bleiben müsse. Denn es gibt 
manche Einrichtungen sowohl im Militärwesen wie sonst im Staate, die nicht aus- 
drücklich auf Gesetzen beruhen, sondern tatsächlich bestehen, auf welche sich 
aber künftige Gesetze wohl beziehen können, und ich meine, die Krone Preußens 
muß in der Lage sein, auch dann ein Veto einzulegen, wenn es versucht werden 
sollte, durch die Gesetzgebung Aenderungen in solchen Einrichtungen zu treffen, 
welche bisher nicht auf ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen beruhen.“ — 
Fürst Bismarck am 11. Januar 1887. Stenogr. Berichte S. 342: „Die bestehende 
Einrichtung ist doch immer die Präsenzziffer des vorigen Jahres und würde infolge 
des ausschlaggebenden Votums des Kaisers immer in Geltung bleiben, selbst wenn, 
was nicht denkbar ist, die Majorität des Bundesrates dagegen stimmte.“ 
2) Uebereinstimmend mit dieser Ansicht sind Thudichum, Verfassungsrecht 
des Norddeutschen Bundes S. 414 und besonders in v. Holtzendorffs Jahrbuch II, S.110fg.; 
Seydel, Kommentar S. 327fg. und in Hirths Annalen S. 1413fg.; ferner Hierse- 
menzel, Verfassung des Norddeutschen Bundes I, S. 160; Fricker, Zeitschrift 
für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 28, S.174 ff.;, Schulze, Staatsrecht II, S. 280; 
Meyer, Staatsrecht $ 198, Note 12; Sartorius S.85fg. und die dort (S. 86) weiter 
zitierten Schriftsteller. Die entgegengesetzte Ansicht vertreten Riedel, Reichs- 
verfassung S. 142; v. RönneL, 1, S. 1ö1ff.; Preuß S. 92fg.; v. Savigny S.239; 
Zorn II, S. 537.
	        
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