172
empört, das Bestehende als solches übte keine Macht mehr, der
Nimbus war verschwunden. Die reinsten Männer unter den Geist-
lichen selbst verkündeten von der Kanzel die Schande ihres Standes.
Der Humanismus raubte ihnen das Monopol der Wissenschaft und
Schule und bildete jene Generation von freier blickenden Priestern
heran, welche die rüstigsten Kämpen des Evangeliums geworden sind.
Die Scharen standen gewappnet; die Alarmtrompete zu Witten-
berg erscholl: alle Mächte des Umsturzes waren entfesselt; Luther
schritt wie der Erzengel Michael voran, um Lucifer zu schlagen;
man warf sich auf die geistige Zwingburg Rom mit einem Gefühl,
wie es die alten Juden gegen Balylon beseelte:
Du schnöde Tochter Babylon,
Zerbrochen und zerstöret:
Wol dem, der dir wird gen (geben) den Lohn
Und dir das widerkehret (vergilt),
Dein Uebermuth und Schalkheit groß,
Und mißt dir auch mit solchem Maß,
Wie du uns hast gemessen!
Wol dem, der deine Kinder klein
Erfaßt und schlägt sie an den Stein,
Damit dein werd vergessen!
Meister Mathis und. feine Genossen.
Mit einer Schnelligkeit, als ob Zauberei im Spiel gewesen
wäre, kamen die 95 weltgeschichtlichen Thesen nach Straßburg.
Zuerst wurden sie den Gelehrten bekannt, dann rasch den Bürgern,
und überall schlugen sie ein.
Die Schriften Luthers wurden eiligst verbreitet, nachgedruckt
und viel gelesen. Eine Flut von Broschüren ergoß sich über den
Bächermarkt, worin Luthers Gegner angegriffen, in den Staub ge-
zogen und für die neue Lehre populär und eindringlich geworben
wurde. Die clericalen Drohungen verfingen nichts, wie groß auch
ihre Macht noch scheinen mußte. „Soll denn allein die Gewalt
Recht sein? — fragt in einer Straßburger Flugschrift der Mann