Full text: Lesebuch für Landwirtschaftliche Winterschulen und ähnliche Anstalten im Königreich Bayern.

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Toren drängt Fuhrwerk und der Haufen flüchtiger Menschen. Ist ein 
sumpfiges Bruchland, schwer zugänglich, oder ein dichter Wald in der Nähe, 
so geht die Flucht dorthin. Unwegbare Verstecke, noch von der Schweden- 
zeit her bekannt, werden jetzt wieder aufgesucht. Dort sammeln sich große 
Scharen, enge gedrängt; unter Rinder und Füllen birgt sich der Städter und 
der Landmann durch mehrere Tage. Zuweilen noch länger. Nach der 
Schlacht bei Bautzen hauste die Gemeinde Tillendorf bei Bunzlau über 
eine Woche im nahen Walde; ihr treuer Seelsorger, Senftleben, begleitete 
sie und hielt in der Wildnis auf Ordnung; auch ein Kind hat er dort 
getauft. 
Wer aber in der Stadt bei seinem Eigentume oder in seiner Pflicht 
zurückbleibt, der ist eifrig die Seinen und die Habe zu verstecken. Lange 
ist der Fall überlegt und erfinderisch sind Schlupfwinkel ausgedacht. Hat 
gar die Stadt den besonderen Grimm des Feindes zu fürchten, weil sie 
durch preußischen Eifer auffällig wurde, dann drohen ihr Brand, Plün- 
derung, Verjagen der Bürger. In solchem Falle tragen die einzelnen 
Mitglieder der Familie das Geld fest eingenäht in ihren Kleidern. 
Eine angstvolle Stunde verrinnt in fiebrigem Hoffen. Auf der Straße 
rasseln die ersten Verkünder des Rückzuges, beschädigte Geschütze, von 
Kosaken geführt. Langsam ziehen sie zurück; ihre Mannschaft ist unvoll- 
ständig, von Pulver geschwärzt; mehr als einer wankt verwundet. Die 
Infanterie folgt; Wagen kommen, überfüllt mit wunden und halbtoten 
Kriegern. Die Nachhut postiert sich, am Tor und den Straßenecken den 
Feind erwartend. Halbwüchsige Buben laufen aus den Häusern und tragen 
den Kriegern noch zu, wonach sie gerufen, einen Trunk, ein Brot; sie halten 
den Wunden die Tornister und helfen bei schnellem Verbande. 
Staubwolken auf der Landstraße. Der erste feindliche Reiter nähert 
sich dem Tore, vorsichtig spähend, den Karabiner auf dem rechten Schenkel; 
da fällt aus der Nachhut ein Schuß; auch der Chasseur1) feuert seinen Kara- 
biner ab, wendet das Pferd und zieht sich zurück. Gleich darauf dringt 
der feindliche Vortrab im schnellen Trabe vor; die preußischen Tirailleurs2) 
ziehen sich von Stellung zu Stellung zurück und feuern. Endlich hat der 
letzte die Häuserreihe verlassen. 
Leere Straßen, lautlose Stille. Auch die Knaben, welche die preußi- 
schen Tirailleurs begleitet haben, sind verschwunden; die Vorhänge der 
Fenster werden herabgelassen, die Türen geschlossen; aber hinter Vorhang 
und Tor spähen ängstliche Blicke auf den heranziehenden Feind. Plötzlich 
ein rauher tausendstimmiger Ruf: Vive Fempereur 13) und wie eine Wasser- 
flut stürzt französisches Fußvolk in die Stadt. Sogleich dröhnen die Kolben- 
schläge an den Haustüren; öffnet sich eine Türe nicht schnell, so wird sie 
zornig erbrochen. Und nun folgt der wüste Streit, welchen der schutzlose 
Bürger mit dem gereizten Feinde auszumachen hat, unerschwingliche 
  
  
) sprich: Schafför = franz. leichter Reiter. 5 sprich: Tirailjör = in 
zerltreuter Ordnung fechtende Schützen. ) sprich: Wiw lamp'rör = Es lebe der 
aiser!
	        
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