Full text: Geschichte des Königreichs Sachsen mit besonderer Berücksichtigung der wichtigsten culturgeschichtlichen Erscheinungen.

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Dergleichen Patrimonialgerichte bestanden Jahrhunderte lang; 
aber schon vor 60 Jahren wurde diese Art der Rechtspflege in mehreren 
deutschen Ländern aufgehoben. Mit dem letzten September 1856 
erreichten auch in unserm Vaterlande in Stadt und Land die 
Patrimonialgerichte ihr Ende. Die ganze Gerichtsverfassung, 
da sich die zeitherige nicht mehr halten ließ, sowie das Verfahren in 
Strafsachen wurde umgestaltet. Zunächst wurden 116 königliche 
Gerichtsämter und 19 königliche Bezirksgerichte ins Leben 
gerufen. 
Von den Gerichten wurden im Allgemeinen zweierlei Arten von 
Angelegenheiten zur Entscheidung gebracht, und zwar entweder Sachen, 
in denen hauptsächlich vermögensrechtliche Streitigkeiten 
zur Entscheidung gestellt wurden, oder Sachen, welche die 
Untersuchung und Bestrafung einer durch das Strafgesetz 
verbotenen Handlung betrafen. 
Entstanden z. B. zwischen zwei oder mehreren Personen Streitig- 
keiten über Rückzahlung eines Darlehns, über Bezahlung für gelieferte 
Arbeiten oder Waaren, über Entschädigung wegen Verletzung des 
Körpers und der Gesundheit eines Menschen, über das Recht, auf 
einem fremden Grundstücke zu fahren, über deren Grenzen, über Erb- 
rechte 2c., so handelte sich's hier nur um Feststellung von streitigen 
Rechten zwischen zwei oder mehr Parteien. Ein solcher Proceß wurde 
ein bürgerlicher oder ein Civilproceß genannt. 
Wurde jemand aber eines Verbrechens bezichtigt, d. h. einer durch 
das Strafgesetz verbotenen Handlung, oder auch der Unterlassung, 
d. h. im Allgemeinen: Nichterfüllung besonders übernommener Pflichten, 
so trat das Strafverfahren ein. Bis zum Jahre 1856 war das- 
selbe ein geheimes, d. h. es durfte demselben, außer den Gerichts- 
personen und dem Angeklagten niemand, selbst nicht der Vertheidiger, 
beiwohnen. Die Untersuchung führte bis zum Schluß ein richterlicher 
Beamter, welcher in minder wichtigen Sachen selbst das Urtheil fällen 
konnte, in wichtigeren dagegen wurden die Akten, nachdem sie einem 
Vertheidiger vorgelegt worden waren und dieser eine Vertheidigungs- 
schrift eingereicht hatte, an das betreffende Appellationsgericht geschickt. 
Dieses entschied nun auf Grund eines von einem Mitgliede aus den 
Akten erstatteten Vortrags, ohne mit dem Angeklagten, mit den 
Zeugen oder mit dem Vertheidiger in Verkehr zu treten. 
Die neuere Zeit?) verlangte hingegen: Oeffentlichkeit, 
Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens. Hiermit 
*) In der Hauptsache stimmt das den 1. Oktober 1879 im ganzen 
deutschen Reiche eingeführte Strafverfahren mit Nachstehendem überein, 
weshalb hier in der Darstellung das Präsens beibehalten worden ist. Es 
wird der einzelnen Abweichungen am gehörigen Orte gedacht werden.
	        
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