74 Zehntes Buch. Fünftes Capitel.
schon fühlte aber auch Ostermann den Boden unter seinen Füßen
schwanken.
Die Regentin Anna war nicht ohne Verstand, aber eigensinnig
und in ihrem Betragen unberechenbar. Im höchsten Grade eifersüchtig
auf ihre Macht, wandte sie sich wieder von dem Manne ab, dem sie
den Besitz derselben hauptsächlich verdankte, und gab sich dagegen
ihrer nächsten Umgebung bis zur Willenlosigkeit hin. Sie brachte
den ganzen Tag in den Zimmern einer ihrer Hofdamen zu, wo haupt-
sächlich zwei fremde Gesande, der sächsische, Graf Lynar, und der
österreichische, Marquis Botta, den Ton angaben; von dem ersten
dem sie die größte Vorliebe bewies, glaubte man, er werde bald zu
ihrem Oberkammerherrn ernannt werden und dann einen offiziellen
Antheil an der Regierung nehmen; aber schon wurden von dort aus
Gnaden vertheilt, Gesichtspunkte für die äußere Politik im öster-
reichischen Sinne gefaßt, der Verwaltung Ostermanns Opposition ge-
macht; die Regentin gefiel sich darin, eben das Gegentheil von dem
zu thun, was er wünschte; auch seinen persönlichen Gegnern, durch
deren Sturz sie emporgekommen, gewährte sie Zutritt.
Ostermann dachte sich in dem Gemahl der Regentin, Anton Ul-
rich von Braunschweig, Vater des jungen mit dem Titel eines Kai-
sers bekleideten Iwan, eine Stütze zu bilden. Anton Ulrich war be-
reits Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht und genoß in der Ar-
mee ein gewisses Ansehen; der Minister wünschte ihn zum Mitregenten
zu erheben und ihm eine selbständige Einwirkung auf die Regierung
zu verschaffen. Er dachte sogar daran, einen andern braunschweigischen
Prinzen, der sich damals in Petersburg aufhielt, Ernst Ludwig, mit
der Großfürstin Elisabeth zu vermählen, um durch diese Combination
der Regentin widerstehen, sein System aufrecht erhalten zu können.
Aber Anton Ulrich war unfähig, selbst zum bloßen Wertzeug einer
Veränderung zu dienen. Es fehlte ihm an den Elementen der Bil-
dung; nur zu lesen, ward ihm schwer, schreiben konnte er kaum; Vor-
trag anzunehmen, ermüdete ihn leicht, und so blieb er in einer steten
Oberflächlichkeit befangen; das Einkommen, das er nach dem Ermessen
der Regentin bezog, pflegte er zu verspielen 1).
1) Ich folge hier den Briefen des Prinzen Ludwig von Braunschweig aus
Petersburg, aus denen man unter andern auch sieht, daß es nicht richtig ist,
wenn Mannstein Mémoires sur la Russie 411 behauptet, der Hof habe die
Prinzessin Elisabeth zu einer Vermählung mit Prinz Ludwig zwingen wollen.
Der Regentin wäre es nicht einmal angenehm gewesen, dagegen hat Oster-
mann daran gedacht, um das Haus Braunschweig in Petersburg zu erhalten.