Object: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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und die Privatbeamtenbewegung lenken 
statt dessen die Aufmerksamkeit auf sich. 
Der Begriff „Privatbeamte“ läßt sich nicht so 
umgrenzen, daß damit gleichzeitig den wissenschaft- 
lichen und praktischen Anforderungen gedient ist. 
Die wissenschaftlich gelungenste Definition ist wohl 
diejenige Stier-Somlos, der folgende Formulie- 
rung vorschlägt: „Personen, die nicht als öffent- 
liche Beamte anzusehen, in wirtschaftlich dauernder 
Abhängigkeit sich befinden, gegen Gehalt beschäf- 
tigt sind und ausschließlich oder überwiegend gei- 
stige Tätigkeit vollziehen, sind Privatbeamte.“" 
Diese Definition ist schon in sich unbestimmt ge- 
nug, sie muß sich aber zudem noch den Vorwurf 
gefallen lassen, daß „sie sich mit dem Leben nicht 
deckt“; namentlich müssen derartige Definitionen 
versagen bei der ersten und wichtigsten Anwendung, 
bei der Antwort auf die Frage: Wer gehört zu 
einer Privatbeamtenversicherung im Gegensatz zur 
Arbeiterversicherung? Tatsächlich will die Privat- 
beamtenbewegung alle die Personen umfassen, die 
weder als öffentliche Beamte, noch als Arbeiter, 
noch in selbständig leitender Stellung (z. B. als 
Direktor einer Aktiengesellschaft) gegen Gehalt tätig 
sind. Es handelt sich dabei um eine Vielheit von 
Stellungen, der irgend eine fest begrenzte Begriffs- 
bestimmung nie gerecht werden kann. 
Eine ÜUbersicht über die einzelnen in Frage 
kommenden Berufsgruppen bietet eine Spezifizie- 
rung, die im Auftrag der Gesellschaft für soziale 
Reform angefertigt wurde. Es werden da unter- 
schieden: 
A. Kaufmännische Angestellte: 1) Kontorper- 
sonal, 2) Verkäufer, 3) Lageristen, 4) Angestellte 
im Fracht= und Exportgeschäft, 5) Buchhandlungs- 
gehilfen, 6) Handlungsreisende, 7) Bankbeamte, 
8) Angestellte in Warenhäusern, 9) Angestellte in 
Konsumvereinen, 10) Versicherungsbeamte, 11) 
Handlungsgehilfinnen. 
B. Technische Angestellte: 12) industrielle Tech- 
niker (Maschinen= und Elektrotechniker), 13) Bau- 
techniker, 14) Chemiker, 15) Zuckertechniker und 
verwandte Berufe, 16) Werkmeister, 17) Berg- 
beamte, 18) seemännische Angestellte, 19) See- 
maschinisten, 20) Angestellte von Privateisenbahnen, 
21) Brennmeister, 22) Brau= und Malzmeister, 
23) Faktoren, 24) Zeichner, 25) Zuschneider, 
26) Techniker im Gemeindedienst, 27) Techniker 
im Staatsdienst (besonders Eisenbahntechniker). 
C. Landwirtschaftliche Beamte: 28) Güterbeamte, 
29) Jorstbeamte, 30) Trichinen= und Fleischbe- 
schauer. "„# 
D. Bureaubeamte: 31) Rechtsanwaltsbeamte, 
32) Beamte der Berufsgenossenschaften, Kranken- 
kassen usw., 33) Bureaubeamte der Handelskam- 
mern, Landwirtschaftskammern, Vereine usw. 
E. Liberale Berufe: 34) Lehrer, 35) Organisten, 
36) Orchestermusiker, 37) Schauspieler, 38) Chor- 
personal, 39) Redakteure, 40) Volkswirte, 41) Apo- 
theker, 42) Arzte, 43) weibliche Hausbeamte. 
Jedenfalls muß von vornherein festgehalten 
werden, daß es keinen einheitlichen Stand der 
Privatbeamten gibt. Nach Tätigkeit, nach Rang- 
Privatbeamte. 
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stellung, nach Bildung, nach Herkunft, nach Ein- 
kommen gibt es so sehr viele und große Unter- 
schiede, daß die Privatbeamtenbewegung eine 
Massenbewegung ähnlich der Arbeiterbewegung 
wohl nie werden kann. Daran ändern auch die 
Tatsachen nichts, daß ziffermäßig die Privat- 
beamten eine nicht unbeträchtliche und stark stei- 
gende Quote der Erwerbstätigen bilden. Leider 
läßt sich an Hand der Berufsstatistik des Deutschen 
Reichs die Zahl der Privatangestellten nicht genau 
verfolgen. Bei der letzten Berufszählung wurden. 
unterschieden 
a) Selbständige, b) Angestellte, c) Arbeiter; die 
Gruppe b erfaßt aber nicht sämtliche unter den 
heutigen Begriff „Privatbeamte“ fallende Ange- 
stellte. Immerhin lassen die jetzt vorliegenden Er- 
gebnisse der Berufszählung vom 12. Juni 1907 
beachtenswerte Schlüsse über die Zunahme der 
Privatangestellten ziehen. Ein Vergleich der unter 
Gruppe b „Angestellte“ in den Jahren 1882, 1895 
und 1907 gezählten Erwerbstätigen sowie der Be- 
rufszugehörigen (d. h. Erwerbstätige, ihre Ange- 
hörigen und die von ihnen im häuslichen Dienst 
Beschäftigten zusammengenommen) ergibt nach den 
„Volkswirtschaftlichen Blättern“ folgendes Bild: 
  
Von der Gesamt- 
bevölkerung des 
Deutschen Reichs 
entfielen auf die 
  
  
  
  
Angestellten 
Berufsabteilung Jahr —— 
T 
weerös-.] Berufs= 
( # elge in zugehörige 
Ü beruf 
A) Landwirtschaft, Gärtnerei 80 98 812 217849 
und BViehzucht, Forstwirt. 1895 96 173 251 224 
schaft und Fischeei ls82 56 644 207 65 
. . ·.. t6007173234" 
B) Industrie, einschließlich 10 6466 745. 750143 
Bergbau und Baugewerbe Lss 59 076 271 320 
0) Handel und Verkehr, ein. (1907 505 909. 1 087 453 
Ülchließlich Gast- und Schank. 261 907 617 516 
wirtschat . 1882 141 548 350 579 
  
Die Zu= oder Abnahme der Angestellten in den 
Jahren 1895.1907, 1882/95 und 1882/1907 zeigt 
die Tabelle auf Sp. 353 f (Zu- [— bzw. Abnahme 
—,h hhier bedeutet die Reihe für 1907: Zu= bzw. Ab- 
nahme 1907 gegen 1895, 1895: Zu= bzw. Abnahme 
1895 gegen 1882, 1882: Zu= bzw. Abnahme 1907 
gegen 1882). 
II. Soziale Stellung und Tage der PFri- 
vatbeamten. Alrsachen der Privatbeamten- 
bewegung. In sehr wesentlichen Punkten unter- 
scheidet sich die Tätigkeit des Privatbeamten, wenn 
man von den allerniedrigsten Funktionen der 
untersten Schichten absieht, von der Tätigkeit des 
1 Arbeiters. Es handelt sich vorwiegend um geistige 
und organisatorische Arbeit, die unzweifelhaft für 
den endlichen geschäftlichen Erfolg wichtiger ist als 
die körperliche Arbeit. Der Wert dieser über- 
wiegend geistigen Arbeit läßt sich aber nicht äußer- 
lich wie das Ergebnis der körperlichen Arbeit 
GZeitlohn, Werklohn) messen. Dazu kommt, daß 
die Qualitätsunterschiede bei dieser Art Arbeit sehr
	        
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