Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

Aebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1896. 327 
Frankreich noch nicht bewirkt, aber der bei weitem größte Teil der 
Nation sieht darin das einzige Heil für Frankreich. Als der Zar 
im August seinen Besuch in Paris ankündigen ließ, trat neben 
dieser Nachricht jede andere politische Frage in den Hintergrund; 
die ganze Presse beschäftigte sich wochenlang mit dem bevorstehenden 
Besuche des Kaisers und seiner politischen Bedeutung, der Matt- 
setzung des Dreibundes durch den Zweibund, die daraus hervor- 
Fesuch 
des 
gehen sollte. Als er dann kam, war die Begeisterung unermefßlich, garen. 
ungezählte Scharen strömten in Paris zusammen, um den erhabenen 
Bundesgenossen zu sehen, die Zeitungen stellten ihre häuslichen 
Fehden ein, um den Freund Frankreichs zu feiern, ja die Pariser 
sozialistischen Stadtväter gingen in den Kundgebungen der Russen- 
freundschaft voran. Ueberschwenglich waren die zum Lobe Rußlands 
geschriebenen Zeitungsartikel in Poesie und Prosa; man las da 
von der jahrhundertelangen Freundschaft zwischen Rußland und 
Frankreich, bald begrüßte man den Zaren als Hort des Weltfriedens, 
der gestützt auf die Heere Rußlands und Frankreichs die kriegs- 
und eroberungslustigen Dreibundsmächte im Zaume hielte, bald sah 
man in ihm den Befreier Elsaß-Lothringens vom Joche der Deutschen; 
nicht selten auch feierte man ihn in einem Atem zugleich als Bringer 
des Friedens und der Revanche. Die Franzosen wiegten sich in 
der Vorstellung einer unermeßlich gesteigerten Machtfülle Frankreichs 
und scheuten die unwahrscheinlichsten Gerüchte nicht, die darauf 
Bezug hatten. So fand die absurde Zeitungsnachricht Glauben, 
der Deutsche Kaiser weile inkognito in Paris, um die Aufnahme 
des Zaren selbst mitanzusehen, ja er habe an dem Empfange des 
Zaren im Spiegelsaale des Schlosses zu Versailles teilgenommen. 
(„Patrie", Vérité“, „Autorité“ u. a.) Man gefiel sich in dem 
Gedanken, daß der Erbe des Siegers von Sedan als stummer Zeuge 
des neuen Glanzes der Republik die Bekräftigung des Bündnisses, 
das die Ergebnisse von 1870 beseitigen soll, habe mitansehen müssen. 
Nur ein Umstand trübte zeitweilig die Festesfreude: in keiner der 
vielen Begrüßungsreden wurde das Wort „Bündnis“ gebraucht, 
doch entschädigte hierfür einigermaßen das Wort des Zaren von 
der „Waffenbrüderschaft“. Näheres über das Einverständnis zwischen 
beiden Mächten wurde auch nicht bekannt, als die Radikalen in
	        
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