Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiter Jahrgang. 1861. (2)

306 Uebersicht der Ereignisse des Fahrts 1861. 
Menge, sie griff nach Koth und Steinen, warf damit nach den Truppen 
und zwang sie, unter allgemeinem Hohngelächter ein Stück zurückzuweichen. 
Die Kosacken sammelten sich indeß wieder, griffen nach ihren über dem 
Rücken hängenden Flinten, schossen erst einigemale blind und als die 
Menge nicht wich, der Angriff mit Steinen vielmehr fortgesetzt wurde, 
scharf. Drei Personen fielen todt nieder, mehrere wurden verwundet. 
Die Menge stob auseinander. Allein die ganze Stadt gerieth darüber 
in Aufruhr. Die Läden wurden geschlossen; die Leichen wurden auf 
Bretter gelegt und hoch emporgehoben durch die Straßen getragen. Die 
Regierung war betroffen und dem plötzlich unwiderstehlichen, überwälti- 
genden Ausbruch der Volksgewalt gegenüber für den Augenblick wie ge- 
lähmt. Der Statthalter von Polen, Fürst Gortschakoff, ließ sich herbei, 
in einer Proclamation das Geschehene zu „bedauern“ und eine Unter- 
suchung anzuordnen, um zu entdecken, wer daran „schuldig" sei; er ge- 
stattete, daß die angesehensten Bürger der Stadt als „Sicherheits- 
Comite“ die Zügel in die Hände nahmen, er gestattete, daß dieses 
Comité auf den 2. März eine feierliche Beerdigung der am 27. Ge- 
fallenen anordnete und nahm eine Adresse an den Kaiser entgegen, in 
der die Unterzeichner erklärten, daß die Ereignisse der letzten Tage nicht 
der Ausdruck der Leidenschaften einzelner Klassen des Volkes, sondern die 
heiße einstimmige Kundgebung unterdrückter Gefühle und unbefriedigter 
Bedürfnisse des Landes seien, in der wieder „das Gefühl einer selb- 
ständigen, von der europäischen Völkerfamilie abgesonderten Nationalität" 
betont und laut geklagt wurde, daß „dieses Volk selbst eines gesetzlichen 
Organes beraubt sei, mit dessen Hilfe es unmittelbar zum Throne zu 
reden und seine Wünsche und Bedürfnisse kundzugeben vermöchte“. Das 
Leichenbegängniß am 2. März war eine neue gewaltige Demonstratien, 
an der ganz Warschau Theil nahm, ohne daß die geringste Unordnung 
vorfiel, da einer förmlichen Bürgerdelegation und bürgerlichen Constablern 
als einer Art unbewaffneter Nationalgarde von der Masse willig Ge- 
horsam geleistet wurde. Die ganze Action war auf diese Delegation 
übergegangen, während die Regierungsgewalt abwartend zusah. Der 
Kaiser nahm die Adresse, was unter seinem Vater nimmermehr geschehen 
wäre, entgegen und antwortete darauf am 9. März in einem Reseript 
an seinen Statthalter, in dem er zwar in den Unterzeichnern nur „einige 
Individuen“ sah, die „unter dem Vorwande von Unruhen, welche auf 
der Gasse vorgefallen sind, sich das Recht aneignen, alle Schritte der 
Regierung zu verdammen“, und mit Entschiedenheit erklärte, daß er „ in
	        
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