Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 101
staatliche Gesichtspunkte dürfen hier gelten. Daher fordert das Gesetz von
Seilen des Landtags auch eine andere Behandlung. Das Geset ist kein Ressort-
gesetz, auch kein Parteigesetz, sondern ein Ergänzungsgesetz zur Verfassung. Es
ist kein Ressortgesetz, da der Staat mit der Gesammtheit seines Wesens dabeie
eintreten muß, soll das Ende ein gedeihliches sein. Es ist auch kein Partei-
gesetz, da es seiner Natur nach nicht auf der Doctrin irgendeiner poli-
tischen Schule basirt; es ist nicht nach einer Richtung liberal oder conservativ,
sondern es beruht auf einer Verständigung der Partcien, und zwar auf keiner
äußerlichen, welche den bestehenden Riß nur verkleistert. Die Gegensätze dieser
Frage sind nicht unlösbar, sie sind vielmehr nur der Ausdruck der Betrach-
tung desselben Gegenstandes von zwei Seiten. Wir mühssen hier die Dinge
nach ihrem gegenwärtigen Bestand und zugleich nach ihrer historischen Ent-
wicklung behandeln. Die Ziele, denen wir zustreben, und welche die heutige
Zeitlage zur Basis haben, sind liberaler Nalur. Der augenblickliche Zustand
aber beruht auf der Grundlage der historischen Entwicklung, die wesentlich
conservativ ist. Uns wird die Aufgabe gestellt, auf dem Wege der Reform
von dem Historisch-Conservativen auszugehen und zum Liberal-Philosophischen
hinzustreben. Nur so ist eine organische Gestaltung zu ermöglichen. Die
Versöhnung der Parteien in dem neuen Werke schafst volles reiches Staats-
leben. Unterdrückt jedoch eine Partei die andere, so ist das Resultat ein frucht-
loses, der Zustand wird entwicklungsunfähig. Die Commission hat dieses
Princip der Versöhnung bei Berathung der Vorlage geleitet, das Plenum
thäte wohl, diese Methode gleichfalls zu accepliren. In den Grundzügen des
Gesetzes weichen die Commissionsvorschläge nicht von dem Regierungsentwurf
ab; was geändert wurde, ist nur nebensächlich. Das Gesetz geht vom Kreis
als Mittelpunkt aus, die erste Frage ist daher die nach der Berechtigung,
gerade auf dieser Stufe den Bau zu beginnen. Der große Uebelstand aller
continentalen Entwicklung ist der Dualismus particulärer Gewalten. Der
absolute Staat der Vergangenheit legte die particularistischen Gewalten brach.
Die Reaction dagegen trat ein, und zunächst auf dem Boden der Gemeinden.
Die Stadtgemeinden kamen als die ersten zu einer communalen Selbstver-
waltung. Diese Selbstverwaltung steht in ihrem selbstständigen Charakter,
aber im Widerspruch mit der Gewalt des Staats. Dieses Nebeneinander der
Gewalten verhindert die Gestaltung eines organischen Ganzen, und ein solches
soll das Gesammtstaatswesen darstellen. Daher ist die Trennung der Gewalten
fehlerhaft, der Dualismus zu verwerfen. Dieser Fehler ist in der Vorlage
vermieden, ohne daß das Princip der staatlichen Selbstständigkeit der Gemein-
den verletzt wird. Das neue Gesenz vereinigt die obrigkeitliche und die Par-
ticularverwaltung zu einer obrigkeitlichen Particularverwaltung, und überträgt
dieselbe auf das geeigneiste Glied, den Kreis. Dem provincialen Verband
eine solche Function beizulegen, dürste nicht annehmbar erscheinen. Er ist zu
groß, die einzelnen Gemeinden in demselben sind zu lose mit einander ver-
bunden. Andererseits aber bietet die Stammeszusammengehörigkeit, wie sie
vielfach im Charakter der Provinzen liegt, eine particularistische Gefahr für
den Staat selbst. Auch die Gemeinden können nicht zu jenen einheitlichen
auf Selbstverwaltung beruhenden Gemeinschaften, aus welchen der Staat sich
zusammensetzt, instituirt werden. Das Verhältniß der letztern dem großen
Staatsverbande gegenüber erfordert die Gleichartigkeit der einzelnen Factoren.
In dem Charakter der Gemeinden aber zeigt sich eine so große Mannichfaltig-
keit, eine so große qualitative und quantitative Verschiedenheit, die sich sowohl
aus der historischen Entwicklung herausgebildet, als sie natürliche Gründe hat,
daß eine Vereinigung der vielen einzelnen unter dem Staat ohne ein Mittel-
glied absolut unthunlich erscheint. Ferner ist der charakteristische Grundzug
der Gemeinden ein defensiver; so trefflich ihre innere wirthschaftliche Verwaltung
bestellt ist, so ablehnend verhalten sie sich nach außen. Der Staat erscheint
ihnen nur als ein Etwas, das Geld von ihnen will. Es sehlt den Gemeinden