Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutfche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Eröffnungsrede erklärt, daß die Regierung auf eine Initiative in der Unions- 
frage verzichte, deßhalb aber auch darauf dringen müsse, daß die Gemein- 
schaftlichkeit der beiden Landestheile nunmehr in dem Umfange zur Geltung 
gebracht werde, den das Staatsgrundgesetz für dieselbe in Anspruch nehme. 
Um dieß zu erreichen und damit zugleich eine Minderung des Personalbe= 
standes der Coburger Ministerialabtheilung zu ermöglichen, ist der Etat gegen 
die früheren dahin abgeändert worden, daß nicht allein die gemeinschaftlichen. 
Einnahmepositionen, sondern auch verschiedene sonst in den Specialetats auf- 
geführten Ausgabeposten in denselben eingestellt worden sind. 
17. März. (Elsaß-Lothringen.) Der bischöfliche Generalvicar Rapp 
erhält den Befehl, Elsaß-Lothringen binnen 48 Stunden zu räumen, 
nachdem der Bischof es abgelehnt hat, seinerseits Remedur eintreten 
zu lassen. Der Ausgewiesene zieht sich nach Belfort, dem französischen 
Theile der Diöcese Straßburg, zurück. 
Der Vorfall ist für die ultramontane Agitation und Taktik sehr n- 
sush Ueber die Motive der Regierung zu dem energischen Schritt wird halboffiz. 
olgendes Nähere mitgetheilt: Gegen Ende des vorigen Jahres hatte sich in Straß- 
burg das Centralcomité eines Vereins unter dem unschuldig klingenden Titel „zur 
Wahrung der katholischen Interessen“ gebildet. Die Bemühungen des Central- 
comité's gingen zunächst dahin, in jedem Canton einen Zweigverein unter glei- 
chem Titel zu gründen, und dies geschah in der Weise, daß die einzelnen Pfarr- 
geistlichen geeignete Mitglieder aus ihren Pfarreien dem Generalvicar der 
Diöcese Straßburg, Herrn Rapp, vorschlugen und dieser dieselben dann seiner- 
seits an den Architecten und Gemeinderath Petiti in Straßburg, den ge- 
wählten Präsidenten des Vereines, mittheilte. Großes Gewicht legte man 
bei dieser Organisation darauf, den Clerus aus dem Vordergrunde zu ent- 
fernen, um ihn im Hintergrunde desto wirksamer arbeiten zu lassen. Es 
war also eine sich über das ganze Land erstreckende Organisation der katho- 
lischen Bevölkerung beabsichtigt, und theilweise war diese Organisation bereits 
vollendet, welche unter dem Vorwande der Wahrung katholischer Interessen 
die größtmögliche politische Macht in den Händen der Cleriker, und damit 
zuletzt in den Händen Eines Mannes in Straßburg vereinen sollte: „In 
unseren Klagen werden wir im Namen des Elsasses sprechen können, wir 
sind für die Wahlen organifirt, mit unserer Organisation werden wir die 
Herren sein“, so schreibt der Präsident in seinen Aufzeichnungen. „Bis die 
Organisation in den Wahlen praktisch werden kann, werfe man sich“, so 
Heit es, „auf die Schulfrage.“ Daß die Regierung nichts an dem con- 
essionellen Character der Schulen geändert hat, daß sie dem Religionsunter- 
richte 5 Stunden und zwar die erste Stunde jedes Schultages eingeräumt hat, 
hindert nicht, in offener und versteckter Form die Lüge auszusprechen und mit 
allen Mitteln zu verbreiten, die Regierung wolle Unterdrückung des Rechts 
der katholischen Eltern, Entchristlichung der Schule; man fand diese Ver- 
leumdung eben „im katholischen Interesse“. Ein Pfarrer S. in B. führt 
Klage, daß „depuis Petablissement du droit de la force der Kirchhof in 
B. entweiht werde, indem die Protestanten, statt wie früher an einem abge- 
sonderten Orte, jetzt in der Reihe begraben würden.“ Der abgesonderte Platz 
auch auf dem Friedhofe für die protestantischen Angehörigen eines paritä- 
tischen Staates ist eben „katholisches Interesse“. In einer Versammlung 
zu R. hielt ein Pfarrer von R. einen für Laienmitglieder des Vereins be- 
stimmten Vortrag, in welchem er auseinandersetzt: „Die Regierung brauche 
ie cynischsten und perfidesten Mittel, um ihren Zweck zu erreichen, Alle zu 
Maschinen eines freimaurerischen und protestantischen Staates zu machen und 
eine Staatsreligion zu etabliren, deren Haupt Bismarck oder der König ist, 
 
	        
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