Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 119
Es ist meine Sache nicht, die liberale Partei gegen den Vorwurf des angeb-
lichen Wechsels ihrer Grundsätze zu vertheidigen. Aber auch der Staats-
regierung ist ja derselbe Wandel in der Auffassung der Dinge vorgeworfen
worden, und die Staatsregierung befindet sich in der Lage, von der Partei,
die gewöhnlich die liberale genannt wird, unterstützt zu werden, erfreulicher
Weise nicht von dieser allein; ich darf nur auf die Abstimmungslisten im
andern Hause hinweisen. Aus diesem Grunde scheint es mir gerechtfertigt,
einzelnen Aeußerungen des Vorredners entgegenzutreten. Er geht davon aus:
wir wollten die Kirche zurückwerfen in die Zeit des starrsten Absolutismus,
und hat von den Kölner Wirren und ihrer Beurtheilung bei der Gesetzgebung
des Jahres 1849 und der folgenden Jahre gesprochen. Ja, m. HH., es ist
gewiß, daß die Kölner Wirren von wesentlichem Einfluß damals gewesen
sind. Man hatte die Thatsache vor Augen, daß der Staat auf dem damals
eingeschlagenen Weg nicht zum Ziel komme, und man suchte nach einem
System, das solche Conflicte ausschließe, und dies glaubte man in dem Princip
der Trennung des Staates von der Kirche gefunden zu haben. Aber, m. HH.,
weiter als zu dem Glauben ist es damals nicht gekommen, man hatte eben
damals eine theoretische Ueberzeugung gewonnen, die man in allgemeine theo-
retische Phrasen formulirte, und in den verschiedenen Verfassungsentwürfen
niederlegte. Aber von Erfahrung war damals nicht die Rede, es waren nur
Hoffnungen; die Erfahrungen kamen später, und sie haben diese Hoffnungen
getäuscht, nicht bloß bei uns, sondern auch in andern Ländern, die uns der
Vorredner als Muster vorgeführt, vor allen in Belgien. Dort ist jetzt die
liberale Partei tief davon durchdrungen, daß jene Theorie falsch war, aber
es ist zu spät. Die Verhältnisse sind ihr dort bereits über den Kopf ge-
wachsen. Nun, m. HH., ist es da nicht angebracht, wenn wir bei Zeiten
zur Erkenntniß kommen? Und Zeit war es, ja die höchste Zeit. Fürst
Bismarck (gegen v. Gruner): Der Redner hat sehr richtig angegeben, daß
in dem Verhalten der auswärtigen Politik der Staatsregierung vom Jahr
1871 ab eine ziemlich auffallende Aenderung eingetreten sei; er hat aber
daraus die ganz verkehrte Schlußfolge gezogen: weil die Staatsregierung in
ihrer Politik einen unerwartet neuen Feldzugsplan gefaßt habe, so müsse
diese plötzliche Aenderung längst präparirt, seit lange vorbereitet gewesen sein.
Aus der Plötzlichkeit des Wechsels hat er geschlossen, daß die Absicht des
Wechsels schon lange vorhanden gewesen sei; wie man auf eine verkehrtere
Schlußfolge kommen kann, begreife ich nicht. Gerade die Plötzlichkeit dieses
Wechsels beweist die Friedfertigkeit der Regierung bis zu jenem Augenblick,
namentlich des auswärtigen Amtes, der auswärtigen Politik, soweit ihre
Beziehungen mit Rom zur Wirkung kommen, beweist ihren Willen, den con-
fessionellen Frieden zu erhalten. Der plötzliche Wechsel erklärt sich einfach
durch das Princip der Nothwehr. Wenn ich in einer bis dahin friedlichen
Session von einem Gegner, mit dem ich mich zu verständigen gewünscht, mit
dem ich gewünscht habe, friedlich leben zu können, plötzlich angegriffen werde,
wenn ich von diesem Gegner plötzlich den Staat in seinen Fundamenten er-
schüttert sehe, dann muß ich mich natürlich wehren, da muß ich Maßregeln
der Nothwehr ergreifen, die als plötzlich erscheinen, und ich bedaure, daß der
Vorredner in seiner langjährigen Beschäftigung im auswärtigen Ministerium
sich über diese ganz unwiderlegliche Wahrheit klar zu werden nicht die Mühe
genommen hat. (Heiterkeit.) Es ist bekannt, daß ich in meiner ganzen Be-
handlung dieser confessionellen Fragen bis an die äußerste Grenze der staat-
lich möglichen Versöhnung gegangen bin. Ich erinnere Sie an einzelne
bekannte Symptome. Ich war Anfangs so weit darin gegangen, daß ich die
Jesuiten in stärkerem Maße begünstigte, als es mir persönlich für Preußen
zulässig erschien. Ich habe das gethan, ich habe den Kampf auf diesem
Gebiete so lange gescheut und zu vermeiden gesucht, daß ich fürchte, er ist
fast zu spät von uns aufgenommen worden, daß ich die Friedfertigkeit, zu