Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 119 
Es ist meine Sache nicht, die liberale Partei gegen den Vorwurf des angeb- 
lichen Wechsels ihrer Grundsätze zu vertheidigen. Aber auch der Staats- 
regierung ist ja derselbe Wandel in der Auffassung der Dinge vorgeworfen 
worden, und die Staatsregierung befindet sich in der Lage, von der Partei, 
die gewöhnlich die liberale genannt wird, unterstützt zu werden, erfreulicher 
Weise nicht von dieser allein; ich darf nur auf die Abstimmungslisten im 
andern Hause hinweisen. Aus diesem Grunde scheint es mir gerechtfertigt, 
einzelnen Aeußerungen des Vorredners entgegenzutreten. Er geht davon aus: 
wir wollten die Kirche zurückwerfen in die Zeit des starrsten Absolutismus, 
und hat von den Kölner Wirren und ihrer Beurtheilung bei der Gesetzgebung 
des Jahres 1849 und der folgenden Jahre gesprochen. Ja, m. HH., es ist 
gewiß, daß die Kölner Wirren von wesentlichem Einfluß damals gewesen 
sind. Man hatte die Thatsache vor Augen, daß der Staat auf dem damals 
eingeschlagenen Weg nicht zum Ziel komme, und man suchte nach einem 
System, das solche Conflicte ausschließe, und dies glaubte man in dem Princip 
der Trennung des Staates von der Kirche gefunden zu haben. Aber, m. HH., 
weiter als zu dem Glauben ist es damals nicht gekommen, man hatte eben 
damals eine theoretische Ueberzeugung gewonnen, die man in allgemeine theo- 
retische Phrasen formulirte, und in den verschiedenen Verfassungsentwürfen 
niederlegte. Aber von Erfahrung war damals nicht die Rede, es waren nur 
Hoffnungen; die Erfahrungen kamen später, und sie haben diese Hoffnungen 
getäuscht, nicht bloß bei uns, sondern auch in andern Ländern, die uns der 
Vorredner als Muster vorgeführt, vor allen in Belgien. Dort ist jetzt die 
liberale Partei tief davon durchdrungen, daß jene Theorie falsch war, aber 
es ist zu spät. Die Verhältnisse sind ihr dort bereits über den Kopf ge- 
wachsen. Nun, m. HH., ist es da nicht angebracht, wenn wir bei Zeiten 
zur Erkenntniß kommen? Und Zeit war es, ja die höchste Zeit. Fürst 
Bismarck (gegen v. Gruner): Der Redner hat sehr richtig angegeben, daß 
in dem Verhalten der auswärtigen Politik der Staatsregierung vom Jahr 
1871 ab eine ziemlich auffallende Aenderung eingetreten sei; er hat aber 
daraus die ganz verkehrte Schlußfolge gezogen: weil die Staatsregierung in 
ihrer Politik einen unerwartet neuen Feldzugsplan gefaßt habe, so müsse 
diese plötzliche Aenderung längst präparirt, seit lange vorbereitet gewesen sein. 
Aus der Plötzlichkeit des Wechsels hat er geschlossen, daß die Absicht des 
Wechsels schon lange vorhanden gewesen sei; wie man auf eine verkehrtere 
Schlußfolge kommen kann, begreife ich nicht. Gerade die Plötzlichkeit dieses 
Wechsels beweist die Friedfertigkeit der Regierung bis zu jenem Augenblick, 
namentlich des auswärtigen Amtes, der auswärtigen Politik, soweit ihre 
Beziehungen mit Rom zur Wirkung kommen, beweist ihren Willen, den con- 
fessionellen Frieden zu erhalten. Der plötzliche Wechsel erklärt sich einfach 
durch das Princip der Nothwehr. Wenn ich in einer bis dahin friedlichen 
Session von einem Gegner, mit dem ich mich zu verständigen gewünscht, mit 
dem ich gewünscht habe, friedlich leben zu können, plötzlich angegriffen werde, 
wenn ich von diesem Gegner plötzlich den Staat in seinen  Fundamenten er- 
schüttert sehe, dann muß ich mich natürlich wehren, da muß ich Maßregeln 
der Nothwehr ergreifen, die als plötzlich erscheinen, und ich bedaure, daß der 
Vorredner in seiner langjährigen Beschäftigung im auswärtigen Ministerium 
sich über diese ganz unwiderlegliche Wahrheit klar zu werden nicht die Mühe 
genommen hat. (Heiterkeit.) Es ist bekannt, daß ich in meiner ganzen Be- 
handlung dieser confessionellen Fragen bis an die äußerste Grenze der staat- 
lich möglichen Versöhnung gegangen bin. Ich erinnere Sie an einzelne 
bekannte Symptome. Ich war Anfangs so weit darin gegangen, daß ich die 
Jesuiten in stärkerem Maße begünstigte, als es mir persönlich für Preußen 
zulässig erschien. Ich habe das gethan, ich habe den Kampf auf diesem 
Gebiete so lange gescheut und zu vermeiden gesucht, daß ich fürchte, er ist 
fast zu spät von uns aufgenommen worden, daß ich die Friedfertigkeit, zu